Mali | Das Diktat des sozialen Handelns


Da lassen sie alles stehen und liegen. Die Tagesplanung wird über den Haufen geworfen. Da musst du dich blicken lassen. Der soziale Bereich dominiert auf eine fast "diktatorische" Art und Weise das Verhalten der meisten Malier. Es gibt Dinge, die gehen vor, auch vor allen beruflichen Verpflichtungen, Erwartungen und langfristigen Planungen.
Hierzu ein paar Beispiele:

Der Samstag gehört den Hochzeiten
In der Anfangszeit des Lehrbetriebs an der FATMES war der Samstagmorgen Bestandteil des Stundenplans. Wir trafen uns bereits um 8.00 Uhr und wollten mittags fertig sein, damit Zeit für Erholung und die Familie bleibt. Mittlerweile hat sich in christlichen Kreisen eingebürgert, dass sämtliche Hochzeiten bereits am Vormittag um 10.00 Uhr starten. Der soziale Druck auf den Studierenden war so groß, dass sich die Direktion der Schule veranlasst sah, den Samstag komplett aus dem Programm zu nehmen und den Wochenplan anders zu organisieren. In jedem Gottesdienst werden mindestens drei Einladungen zu Trauungen und Hochzeitsfesten verlesen, zu denen jeder aufs herzlichste eingeladen ist. Einer unserer Mitarbeiter war letzten Samstag auf drei Hochzeiten. Sobald der Segenshammer bei der einen Trauung gefallen war, schwang er sich auf sein Motorrad, um beim Sit-In der zweiten Hochzeit noch dabei zu sein. Auf dem Weg dorthin, hat er auch bei einer dritten Party noch vorbeigeschaut. So haben ein paar Hundert Leute mitbekommen, dass "er sich hat blicken lassen", dass ihm der soziale Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten wichtig ist. Ein Mammutprogramm. 
Wir erinnern uns an die Anfänge unserer Zeit in Mali. Damals mussten wir den LKW der Mission für den Personentransport unseres Personals "hergeben", damit die Mitarbeiter an einer Hochzeit im benachbarten Boboland teilnehmen konnten, und zwar auf Kosten der Mission. Soziale Konventionen zwingen dazu.

Krankenbesuche gehen über alles.
Einer unserer Gäste im Zentrum der Allianz-Mission in Bamako, ein Herr aus Sévaré, litt an einer schweren Erkrankung, die ihn unters Messer zwang. Der ganze Hof war in Aufruhr. Der eine informierte die Chefs, die sogleich mit ihrem Dienstwagen vorfuhren. Der andere packte die sieben Sachen und informierte die Familie. Gott sei Dank ist die Operation gut gelungen. Besuche im Krankenhaus, auch während der Arbeitszeit, sind obligatorisch. 
Eine Schülerin in der Christlichen Schule Pas à Pas in Sabalibougou musste aus der Klasse heraus sofort als Notfall in das benachbarte Krankenhaus eingeliefert werden. Eine Woche lang lag das Mädchen auf Intensivstation. Enoc S., der Schulgründer, lässt in diesem Fall alles stehen und liegen. Er besucht die Familie und die Schülerin im Krankenhaus. Er mobilisiert Geld, um die Familie zu unterstützen, denn Operationen müssen privat finanziert werden. Das ist soziales Handeln.

Beerdigungen
Bei Todesfällen gibt es zwar eine arbeitsrechtliche Regelung, wer in welchem Fall sich von der Arbeit entfernen kann und wer nicht. Doch das Arbeitsrecht ist vollkommen zweitrangig. Wenn jemand aus der Nachbarschaft oder dem Freundeskreis verstirbt, wird schon gegen 10 Uhr der Arbeitsplatz geräumt, um die Heimreise anzutreten, um Unterstützung anzubieten und bei der Beerdigung am Nachmittag dabei zu sein. 
Es ist die soziale Verpflichtung, das Zeichen der Solidarität und Verbundenheit, die so zum Ausdruck kommt. Dass es hier keine wirkliche Option gibt, führt dazu, dass das soziale Handeln fast "diktatorische" Ausmaße annimmt. Du kannst nicht anders, ob du Zeit hast oder nicht, ob du gerade was anderes geplant hast oder nicht. Hilfsbereitschaft und Schamvermeidung sind zwingend.

Nun sind diese Verhaltensweisen auch für den westlichen Kontext üblich, wenn sie auch nicht unter einem solchen Druck stehen wie in Mali. Auch in Deutschland geht man auf Hochzeiten, auf Beerdigungen oder ins Krankenhaus. In Mali wird das oben beschriebene Verhalten als "cas social" bezeichnet, als "sozialer Härtefall". Malier bringen so ihr "soziales Engagement" zum Ausdruck.
Aus westlicher Perspektive wird das beschriebene Handeln als normales bürgerliches Handeln angesehen. Wenn wir keine Zeit haben, bei einer Beerdigung dabei zu sein, oder der Weg zu weit ist, dann schreiben wir eben eine Karte. Es gibt geladene Gäste bei Hochzeiten, die was Besseres vorhaben, sich entschuldigen und einen Umschlag vorbeischicken. 
Wenn ich in Deutschland sage, dass ich mich sozial engagiere, dann meine ich damit meistens, dass ich als Ehrenamtler in einer Hilfsorganisation unterwegs bin, dass ich ein Patenkind in einem anderen Teil der Welt unterstütze oder auch hauptberuflich mit Entwicklungsarbeit zu tun habe.
  • Soziales Engagement ist aus westlicher Perspektive doch eher ein organisiertes, projektbezogenes Handeln, um medizinische oder wirtschaftliche Engpässe in der Gemeinschaft zu überwinden. 
  • Aus afrikanischer Perspektive steht im "sozialen Bereich" (domaine social) eher die persönliche Beziehung im Vordergrund, der Beistand und auch der eigene gute Ruf, den man im Kollektiv bei Unterlassung oder Abwesenheit nicht verlieren möchte.
Beide Perspektiven sind wertvoll. Doch die Definition dessen, was soziales Handeln ausmacht ist unterschiedlich. Wenn in Mali jemand über eine Person sagt, il est très fort dans le domaine social (Er ist sehr stark im sozialen Bereich), dann meint er damit eben nicht, dass sie viel Geld in ein soziales Projekt investiert hat, sondern dass sie einfach eine stark entwickelte soziale Ader hat und weiß, wie sie sich in der Gemeinschaft zu verhalten hat. Deshalb misst diese Person der Solidarität, der spontanen Hilfe und der Mitmenschlichkeit einen großen, überaus wichtigen Stellenwert bei. 
Dafür lohnt es sich, alles stehen und liegen zu lassen und sich dem sozialen Diktat einer schamorientierten Gesellschaft auszusetzen.

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