Koloniale Geister besiegen - 1. Der Kulturkampf und die alten weißen Männer

Die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ist in unserer Gesellschaft angekommen. Dort sind seriöse Analysten und "kämpferische Frontenkrieger" gleichermaßen am Werk.
Missionare beschäftigt die koloniale Vergangenheit schon sehr lange, nicht erst seit dem, angestoßen durch die aktuelle Rassismus-Debatte, auch die koloniale Vergangenheit neu in den Blick kommt.
Die Redakteure von Move, dem Magazin der Allianz-Mission, haben dieses Thema aufgegriffen und im Anschluss an einen von mir verfassten Artikel mit dem Titel „Koloniale Geister besiegen“ ein paar Fragen gestellt, auf die ich gerne eingehe. 


Simon D., (Allianz-Mission): Alfred, Du und ich, wir sind "alte weiße Männer". Damit sind wir in vielerlei Hinsicht privilegiert ...

Alfred: Danke für das Kompliment, aber da muss ich mal kurz einhaken. Zunächst ist es eine ganz simple demografische Tatsache, dass die Bevölkerung in Europa altert und die Gesellschaften des globalen Südens im Durchschnitt viel jünger sind. Doch hinter der Floskel von den alten weißen Männern steckt ja auch die berechtigte Kritik, dass die alten, vorwiegend von Männern kontrollierten Strategien des Westens, in Bezug auf Politik, Kunst, Wirtschaft und internationale Kooperation nicht mehr zeitgemäß und vor allem nicht ausgewogen genug sind, um alle mitzunehmen. Denzel Washington sagte: "Es geht nicht um die Hautfarbe, sondern um die Kultur". Die Denkrichtung der critical whiteness hat an dieser Stelle ihre Berechtigung. Deshalb geht es um die Abkehr von rassischen Merkmalen. Es geht positiv um kulturelle Gleichwertigkeit, um die Anerkennung nichteuropäischer Kulturen, die bisher marginalisiert wurden. Und aus diesem Grund muss die Deutungshoheit der weißen Kultur relativiert werden. Unser gemeinsames Miteinander wird bunter, polyzentrischer, vielfältiger. Wir werden mehr aufeinander hören und uns alternative Modelle des Dialogs und der gesellschaftlichen Gestaltung überlegen müssen, die Generationen und Kulturen verbinden und die Lebensgeschichten und historische Erfahrungen miteinander versöhnen. Das ist das eine, und es ist bedeutsam.

Weil wir aber mehr aufeinander achten müssen und mehr Gerechtigkeit im Zusammenleben nur gemeinsam gelingt, frage ich mich, ob die generellen Kategorisierungen wie „alte weiße Männer“ oder „BIPeople of Colour“ hilfreich sind als Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Diskurs zum Thema Kolonialismus. Diese, teilweise historisch gewachsenen, teilweise konstruierten und kontrovers betrachteten Schubladen, wirken aus meiner Sicht stigmatisierend und erschweren den differenzierenden Dialog. Die Begriffe und Konzepte machen einerseits Fehlentwicklungen und neue Perspektiven bewusst, doch andererseits verhärten sie die Fronten.

Simon D., (Allianz-Mission): Ich merke, Du legst Wert auf Differenzierung ...

Alfred: Ja, denn es handelt sich um deterministische, um konstruierte Kategorien und deren Vertreter wollen in der heutigen Zeit neben Sexismus und Machtmissbrauch die negativen Auswirkungen von Kolonialismus und Rassismus ins Bewusstsein rufen und zur Sprache bringen, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Aber sie tun dies, indem sie wiederum eine „rassistische Sprache“ verwenden. Es läuft auf eine dualistische Simplifizierung hinaus - hier der weiße Norden, dort der bunte Süden. Es wird das Gegensätzliche, das Polarisierende herausgestellt, und damit geht das ganze Konstrukt an der Realität vorbei, denn auch innerhalb der BIPoC gibt es diskriminierende Erfahrungen. Man könnte auch sagen: Es ist der Rückfall in einen identitären Essentialismus, wo alles auf eine verallgemeinernde Stereotype reduziert wird. Dagegen wehren sich zu Recht von Diskriminierung und Rassismus Betroffene, und genau aus diesem Grunde finde auch ich das nicht hilfreich.

Leute aus dem Globalen Süden müssen sich die Freiheit nehmen, ihre Perspektiven und auch ihre Verletztheit zum Ausdruck zu bringen. Das ist vollkommen legitim und längst überfällig. Ich glaube, dass kein westlicher Mensch sich je wird vorstellen können, was es bedeutet, aufgrund der Herkunft oder Hautfarbe gemobbt oder zum Menschen zweiter Klasse degradiert und diskriminiert zu werden und mit einer dadurch traumatisierten Seele durchs Leben zu laufen. Aber, gerade weil es hier um Verletzung, historische Last und persönliche Betroffenheit geht, deshalb möchte ich keine Kategorien nutzen, die die Fronten noch weiter verhärten. "We are the people of colour - you are old white men!" "Wir sind jung und viele, und ihr seid alt und nur wenige". - Diese revolutionär klingende Sprache hat vielleicht ihre Zeit und rüttelt auf, doch zur Einladung zu einem Gespräch, das der Aufklärung und Versöhnung dient, taugt sie meiner Meinung nach nicht.

Ich habe den Eindruck, dass wir die Zeit der Revolution aushalten müssen. Die Zeit wird kommen, wo wir uns sachlich und ausgewogen über geschichtliche Entwicklungen austauschen können. Ist die Zeit schon reif dafür?  Hier und da schon. Aber mir scheint, dass über dem Dialog zwischen Westen und Süden irgendwie immer noch das Damoklesschwert der Kolonialzeit hängt. Setzen, schweigen, zuhören. Jetzt sind wir aus dem Süden dran zu reden, denn ihr aus dem Westen, habt schon genug geschrieben und aus Eurer Perspektive die Kolonialzeit analysiert.

Wenn wir in Mali auf den Einfluss Russlands in Afrika zu sprechen kommen und ich erwähne, dass Russland ein Aggressor ist und seine Macht auf dem zaristischen Kolonialreich und der sozialistischen Expansionspolitik aufbaut, dann werde ich schnell eines Besseren belehrt, denn schließlich waren es ja die westlichen Länder, und nicht Russland, die Afrika kolonialisiert haben. Russland ist der neue Freund Afrikas. Der Süden beansprucht eine eigene Sicht der Dinge, und ich habe den Eindruck, dass die politische Dekolonialisierung der Sahelstaaten in den letzten fünf Jahren einen richtigen Schub erhalten hat.

Ein anderes Beispiel: Können Analysten aus dem Westen die hinduistischen Nationalisten aufs Korn nehmen, weil sie eine Moschee niedergebrannt und an ihrer Stelle einen Hindutempel errichtet haben? Was soll man angesichts der eigenen Kirchengeschichte und kolonialen Schreckenstaten schon dagegen sagen können? Das moralische Recht dazu scheint verwirkt. Das Unwohlsein angesichts dieser Themen müssen wir aushalten lernen.

Zum Glück gibt es aber Auswege und Angebote zum konstruktiven Miteinander. Ich erinnere mich an ein Buch von Makanzu Mavumilusa aus dem ehemaligen Zaire von 1988 "Die Mission und der Blumentopf". Dieses inspirierende Buch begleitet mich schon seit vielen Jahren. Dort spricht er in Bezug auf die Aufarbeitung kolonialer Erfahrung, Kontextualisierungsprozesse und der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Missionsgesellschaften von drei Phasen - Revolution, Versöhnung und Wiederaufbau. In der Revolution wird Tacheles geredet, da zerbrechen alte Visionen. Bei der Versöhnung sitzt man gemeinsam an einem Tisch, in Liebe, mit dem Evangelium in der Mitte, redet und hört zu und dann schmiedet man gemeinsame Pläne für die Zukunft. Mavumilusa sagt: "Ein Weißer wird genauso wie ein Afrikaner eine leitende Stellung in der Kirche übernehmen können, aber er wird sie nicht mehr bekommen, weil er weiß ist, sondern weil wir in ihm die Gaben und Qualitäten einer Führungspersönlichkeit erkennen." Die Stichwörter "in Liebe und gemeinsam" gefallen mir gut. Am Ende steht der gemeinsame Tanz um das Evangelium, das Wurzeln geschlagen hat. Hier wird nicht in Fronten gedacht.

Ja, Denzel Washington hat recht: Es geht nicht um die Hautfarbe .... Für mich als cèkoroba bileni (alter Mann mit weißem Bart und rotem Thein) geht es in erster Linie um die Farbe der Liebe zu Menschen, um Respekt vor der Kultur meines Gastlandes, zu Mali, wo wir Freunde und Kollegen haben und wo wir die Vision Gottes für unser Leben leben konnten. Kulturkampf hilft nicht weiter. Und wenn sie mich in die Schublade des tubabu (Klischee für Weiße) stecken, dann zeige ich ihnen mein schwarzes Herz und bin so frei, ihnen in aller Ehrlichkeit zu sagen, was ich denke. Und wenn Freunde aus dem Westen von mir erwarten, ich müsste Afrikanern, angesichts der aktuellen antiwestlichen Tendenzen, doch endlich sagen, dass sie politisch oder theologisch auf dem Holzweg sind, dann zeige ich auch ihnen mein schwarzes Herz und verweigere mich, mich von Afrika zu de-solidarisieren.

Der Überblick ...

Fragen und Antworten zum Thema "Koloniale Geister besiegen"

1.  Der Kulturkampf und die alten weißen Männer

2.  Von Privilegien und Verzicht

3.  Von Kunstschätzen und Gesten der Wiedergutmachung 

4.  Auswirkungen des Kolonialismus in Mali 

5.  Missionare der Allianz Mission als Profiteure des Kolonialismus in China 

6.  Von Versöhnung und Dekolonialisierung

7.  Vom Neokolonialismus und den Hausaufgaben

8.  Von der Missionsbewegung profitieren 

9.  Der Gefahr des Rassismus begegnen

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