Den Sinn des Leides mitten im Leben entdecken


Es war ein Wagnis, und es war eine gute Erfahrung. Am 3. Februar war ich von unserer Partnergemeinde in Medenbach eingeladen, ein Seminar zum Thema Leid zu gestalten. Von 10 bis 15 Uhr haben wir zusammengesessen. Seit der Demenzdiagnose von meiner Frau hat mich das Thema existentiell beschäftigt. Im Laufe der Zeit sind Gedanken, Erkenntnisse in Kopf und Herz gereift. Lange Zeit habe ich nicht den Mut gehabt, darüber öffentlich zu reden. Die Emotionen ließen es nicht zu. Der Kopf war noch nicht frei genug. Die Frage nach dem Warum stand nie im Vordergrund. Ich wollte vielmehr wissen, wie ich Leid in einen größeren Zusammenhang einordnen und als Betroffener den Sinn des Leids mitten im Leben entdecken und damit umgehen kann. Ich wollte, dass das Leben weitergeht und die Erinnerung an schöne Zeiten nicht verblasst. Den Wert des Leids erfassen lernen und mich mit dem Leiden versöhnen, das wolle ich lernen. Ich machte mich auf Spurensuche in der Bibel und Theologie und in den Erfahrungswelten Betroffener. Eine Aussage von Viktor Frankl, einem ehemaligen KZ-Insassen, Neurologen sowie Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, hat mich ermutigt: „Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.“ Ist Leid lebensnotwendig, ja geradezu substantiell, um den wahren Sinn des Lebens zu begreifen? 

Der Erkenntnis von Frankl stimme ich mittlerweile umfänglich zu. Doch es war ein Weg dorthin, geprägt von Ohnmacht und Respekt vor dem Leid, ein Jonglieren der Gedanken, ein Ringen unter Tränen, Tränen, die Emotionen haben fließen lassen und dabei Gedanken freigewaschen haben. Es ist nicht einfach eine punktuelle Logik, ein überzeugender Gedanke, ein passender Bibelvers, eine Lebensweisheit, die mir geholfen haben. Es reicht nicht, Ideen und Tipps zu übernehmen, auch wenn sie wahr sind, ohne sie auf dem Prüfstand des eigenen Kopfes und Herzens abzuklopfen. Es war der Mut, mich auf einen Prozess einzulassen, in die Tiefe zu gehen, das Leid ganz tief in meine Gedankengänge und in mein Herz zu lassen - die Entfremdung, den Verlust der Gelassenheit und der Beherrschbarkeit akzeptieren lernen. Dabei bin ich Jesus begegnet, habe mir seinen Weg neu angeschaut und entdeckt, wie sein Leidensweg zum Heilsweg geworden ist. Gutgemeinte Ratschläge und Weisheiten von außen und meine Thesen zur Theologie des Leidens können nur ein Anstoß sein, einen eigenen Zugang zu finden. Im Seminar wurde deutlich, dass isolierte biblische Wahrheiten das Trauma des Leids eher verstärken können, statt Abhilfe zu schaffen. 

Auf meinem eigenen Weg haben sich thesenhaft Gedanken herauskristallisiert, eine für mich hilfreiche Theologie des Leidens, die folgende Eckpunkte enthält:

  1. Das Leid wahrnehmen 
  2. Das Leid im biblischen und missionarischen Kontext
  3. Das Leid empfinden
  4. Das Leid einordnen
  5. Die Trinität und das Leid
  6. Wie Jesus leidenden Menschen begegnet
  7. Die theologische Ursache von Leid
  8. Leid zwischen Harmonie und Disharmonie
  9. Leid wird durch Hoffnung überwunden
  10. Warum lässt Gott Leid zu?
  11. Wieso eine Theologie des Leidens hilfreich ist – ein Fazit: Wozu kann das Leid dienen? - Warum eine Theologie des Leidens wichtig ist. - Wie begegne ich leidenden Mitmenschen?

In dem Prozess des herantastenden Nachdenkens habe ich gemerkt, dass Theologie keine trockene Theorie ist, sondern echte Lebenshilfe, Seelsorge und eine Option, resilient zu werden auf dem Weg des Leidens. Nachdenken ist eine Form der intersubjektiven Distanz, die hilft, Erfahrungen und Emotionen "anzuschauen" und zu sortieren. Theorie bedeutet Anschauung, Betrachtung, kontemplatives Nachsinnen. Nur wer das Leben nachdenkend anschaut, kann es letztlich anpacken. Wenn Menschen sagen: Jetzt ist genug mit der Theologie, genug der Theorie, dann habe ich das nie nachvollziehen können. Theologische Erkenntnisse zu gewinnen und darin zu wachsen, das ist eine höchst praktische Angelegenheit, die Kopf und Herz guttut und geradezu Luft verschafft. Menschen, die zu schnell an die Praxis denken, an das how to do, die verpasssen Entscheidendes. Zur lebensnahen Wirklichkeit gehört es, sich genügend Zeit zu nehmen, um Erfahrungen gedanklich abzugleichen. Alles andere wäre lebensfremd. Das ist meine Meinung. 

Sehr dankbar bin ich für den Mut und die Geduld der 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, für ihre Rückfragen und Anmerkungen. Sie haben sich auf meine Geschichte, meine Emotionen und Gedanken eingelassen. Einige hatten den Mut, ihre eigene Geschichte mit dem Leid anzusprechen. Andere haben mich ermutigt, getröstet. Die Aussage einer Teilnehmerin hat mich sehr berührt: "Alfred, man spürt beim Mitteilen der Gedanken, die dir Gott aufs Herz gelegt hat, dass du deine Frau sehr liebhast". – Über die Liebe zu meiner Frau habe ich nicht gesprochen, doch in Wirklichkeit ist es diese Liebe, die mich motiviert hat, mich lange und intensiv mit dem Leid zu beschäftigen. 

Mir ist in diesen Tagen ein Satz begegnet, der eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck bringt: "Oftmals sind es die schwersten Zeiten, die uns zeigen, wer wir sind, zu was wir fähig sind und wen wir lieben".

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