Koloniale Geister besiegen - 6. Von Versöhnung und Dekolonialisierung

 

Simon D. (AM): Wie könnte aus Deiner Sicht Versöhnung aussehen? 

Alfred: Versöhnung ist ein großes Wort. Versöhnung greift m.E. nur da, wo die betroffenen Personengruppen bzw. deren Nachfahren identifiziert werden und miteinander ins Gespräch kommen. Als Papst Franziskus im Jahre 2022 Kanada besuchte, hat er sich bei der indigenen Bevölkerung für die Gräueltaten der christlichen Missionare und Pädagogen entschuldigt, die Kinder im 19. Jahrhundert misshandelt haben. Er sagte: „Angesichts dieses empörenden Übels kniet die Kirche vor Gott nieder und bittet um Vergebung für die Sünden ihrer Kinder. Ich möchte dies mit Beschämung und Klarheit wiederholen: Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde.“ - Das war ein konkreter Kontext mit einem nachvollziehbaren Bezug.
Wir wissen von Besuchen in China, dass die Christen der ersten Generation für den Einsatz der Missionare der Allianz-Mission sehr dankbar waren. Man darf sich jedoch nicht herausreden. Und wenn die kritische Auseinandersetzung gelingt, dann kann man sich als Missionsgesellschaft auch mit der eigenen Vergangenheit versöhnen. Wir waren dabei und Entschuldigungen im konkreten Rahmen sind sinnvoll und notwendig. ...
 
Simon D. (AM): Ich habe vor Kurzem ein Interview mit Dr. Usha Reifsnider von Lausanne Europe geführt. Sie sagte unter anderem: "Du musst Dich als Weißer immer wieder entschuldigen und ich muss Dir immer wieder verzeihen". Was denkst Du dazu?
 
Alfred: Ich meine zu ahnen, was sie mit diesen Aussagen meint. Meine Meinung ist, dass ich es für wenig zielführend halte, zu sagen, die Missionare, oder der Westen müssen sich pro forma jederzeit und immer wieder entschuldigen für alles, was in der Kolonialzeit auf der großen weiten Welt passiert ist und für jedes Trauma, was dadurch entstanden ist. Hier käme es zu einer inflationären Generalisierung, zur "kategorischen Inhaftierung" des ganzen weißen Kollektivs. Bezogen auf die Rede von Frau Szepezi, einer Überlebenden des Holocausts, am Erinnerungstag an den Holocaust im Deutschen Bundestag, bedankte sich der Jude und Sportjournalist Marcel Reif, dass sie nicht gekommen sei, Sühne einzuklagen, sondern zu erinnern und Deutschland eine zweite Chance zu geben. Das wünsche ich mir für den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit ebenso.
Entschuldigung kann nicht diktiert werden. Also - Zuhören, immer und Entschuldigung, ja und unbedingt, aber dann konkret und in sinnvollen Zusammenhängen. Sie muss aus innerer Überzeugung und von Herzen kommen. Die Atmosphäre muss authentisch und ehrlich sein. So wie bei dem Komiker Atze Schröder, der sich bei der bereits erwähnten Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi für die Gräueltaten seines Vaters, einem NS-Soldaten, öffentlich und spontan in einer Fernsehsendung entschuldigte. Die Entschuldigung basierte darauf, dass er zuhörte, dass sich zwei Familiengeschichten begegnet sind und er dann seinem Herzen gefolgt ist. Diese Entschuldigung wurde angenommen und hat die jüdische Familie sehr beeindruckt.
 
Viele Missionare sind mit dem Überlegenheitsgefühl ihrer eigenen Kultur und Zivilisation unterwegs gewesen. Was ich tun möchte, ist, diesen Tatbestand als Missionar des 21. Jahrhunderts konstatieren und ihn im missionswissenschaftlichen Unterricht an der FATMES thematisieren. Wenn im Unterricht die kolonialen Verstrickungen der Missionare zur Sprache kam, dann habe ich dafür intuitiv und spontan um Verzeihung gebeten, stellvertretend und im Bewusstsein einer kollektiven Verantwortung. Aber viel wichtiger finde ich, dass wir uns so benehmen, dass die Leute in Mali merken, dass wir aus der Geschichte gelernt haben. Und die Malier signalisieren mir mit ihren Reaktionen, dass das der richtige Weg ist. Ich möchte der Gefahr der westlichen Überfremdung entgehen. Wenn mich Malier z.B. fragen, wie man bestimmte Dinge denn in Deutschland macht, dann versuche ich mich immer herauszureden, denn die Mentalitäten und Kontexte sind zu unterschiedlich und Vergleiche nicht zielführend.
 
Ich sehe als Missionar die Verantwortung, mich den Auswirkungen des europäischen Kolonialismus in Afrika zu stellen. Mir kommt Nehemia in den Sinn, der sich der kollektiven Schuld seines eigenen Volkes stellte, obwohl er persönlich einer anderen Generation angehörte. Er sprach von den aktuellen und den Sünden der Vätergenerationen und bat Gott um Vergebung (Neh 1). Bei Nehemia wird aber auch deutlich, dass er sich mit der aus seinem eigenen Herzen kommenden, also nicht aufgesetzten Bitte um Vergebung, zielgerichtet an die Person wendet, der gegenüber sein Volk schuldig geworden ist - an Gott. Konkret -  Deutsche sollten sich für ihr historisches Verhalten bei den Menschen aus Namibia und Tansania oder Kamerun entschuldigen, Engländer sollten sich für das entschuldigen, was sie Indern angetan haben, die Siedler der USA für das, was sie den nordamerikanischen first nations angetan haben und Franzosen sollten für das gerade stehen, was sie in Westafrika angerichtet haben etc. Wenn westliche Staaten das ernst meinen und sagen "Kolonialismus war ein Verbrechen", dann müssen sich die ehemaligen Kolonialmächte auch dafür entschuldigen und Missionsgesellschaften, die in dieses System involviert waren, auch.
Sich als Deutscher im 21. Jahrhundert für die Missstände zu entschuldigen, die die französische Kolonialzeit von 1880 bis 1960 in Mali verursacht hat, erscheint zunächst sehr weit hergeholt. Es wäre, wie schon angedeutet, etwas anders gelagert, wenn ich als Deutscher in Togo, Namibia oder Tansania arbeiten würde, in ehemaligen deutschen Kolonialgebieten. Dennoch - als Weißer sitze ich in der "kolonialen Grabhöhle der Geschichte", als Tubabu, wie man in Mali alle Weißen betitelt. 
 
Simon D. (AM): Ushia Reifsnider meint auch: "Als weißer Mann bist Du Teil des Kolonialisierungsprozesses, aber auch Teil des Dekolonialisierungsprozesses." Kannst Du damit was anfangen?
 
Alfred: Ich lasse diese Aussage stehen. Mal sehen, ob mir dazu was einfällt. Obwohl ich keine persönliche Schuld trage, muss ich um die Geschichte wissen und um die Verletzungen, die passiert sind. Durch die bewusste Erinnerung werde ich aufgerüttelt, beschämt und auf diese Weise werde ich Teil des Kolonialisierungsprozesses, obwohl ich nicht dabei war. Es ist natürlich wünschenswert, dass es uns irgendwann gemeinsam gelingt, die kolonialen Bezüge hinter uns zu lassen. Doch das können wir nicht einfordern. Es braucht Zeit, Lasten abzulegen.
Im Rahmen meiner Recherchen zur Geschichte der christlichen Mission in Mali sind mir Verhaltensweisen meiner Vorgängergenerationen begegnet, die tiefe Scham ausgelöst haben. Malier haben gelitten - Bevormundung, Demütigungen, die dazu führten, dem christlichen Glauben den Rücken zu kehren, materielle Unterversorgung mit Todesfolge ... Diese Geschichten muss ich als Missionar des 21. Jahrhunderts an mich heranlassen und sie wirken lassen ... Daniel Coulibaly, der leider schon verstorbene ehemalige Vorsitzende der Ev. Allianz in Mali, hat in seinem Buch über die Geschichte der christlichen Kirchen in Mali alte Christen erwähnt, die bis heute wegen den ihnen von Missionaren zugefügten seelischen Verletzungen nicht über ihre Erfahrungen sprechen können. Das Trauma sitzt zu tief. Das ist sehr traurig, und ich habe deshalb viel Verständnis für die malischen Vorbehalte den westlichen Akteuren gegenüber. 
 
Simon D. (AM): Und was können wir Deiner Meinung nach zur Dekolonialisierung beitragen? 
 
Alfred: Ich muss die Geschichte zunächst einmal aushalten und dann mein persönliches Verhalten so gestalten, dass es hilft, Wunden zu heilen. In diesem Sinne bin ich Teil des Dekolonialisierungsprozesses und zeige Verantwortung gegenüber der Geschichte. Dekolonialisierung ist aber mehr als Verantwortung zu übernehmen für den historischen Kolonialismus im Sinne von Übernahme von Schuld und Wiedergutmachung. Dekolonialisierung bedeutet auch, die imperiale Whiteness (die Dominanz der von weißen ausgeübten Kultur) zu relativieren, die weiße Kategorisierung der Welt und des Denkens, die in Subjekt-Objekt-Kategorien denkt, die das nichtwestliche als minderwertig ansieht, um damit die eigene Vorherrschaft zu legitimieren. Das betrifft Bereiche der Entwicklungsarbeit, der Bildung, der Wirtschaft und der Politik. Dekolonialisierung heißt also auch Denkansätze und Praktiken der Weltgestaltung miteinander zu versöhnen. 
Versöhnung ist meiner Meinung nach ein Prozess, der mit einer punktuellen Entschuldigung oder einer "offiziellen Erklärung" nicht beendet ist. Dazu gehört viel reden lassen, nachfragen, viel zuhören, Geschichten zulassen, miteinander leiden und geschichtliche Fakten aufarbeiten. So habe ich bei der Erarbeitung des Kurses zur Missionsgeschichte in Mali darauf geachtet, dass neben den zeitgenössischen Berichten der Missionare malische Zeitzeugen der ersten Generationen selber zu Wort kommen. Da kommen Dinge an die Oberfläche, die in keinem Magazin der in Mali tätigen Missionsgesellschaften zu lesen sind. Dabei geht es mir nicht so sehr um eine methodische Ausgeglichenheit, sondern vielmehr um eine inhaltliche Gleichwertigkeit der Statements. Dies wäre aus meiner Sicht eine Form der Dekolonialisierung. Die Perspektiven der Malier, die wir aus Interviews und ihrer persönlichen oral history kennen, ist wichtig, und ich lasse sie auf mich wirken. Als Dozent werte ich sie aus, aber bewerte sie nicht. Zur Dekolonialisierung gehört, bezogen auf Afrika, meiner Meinung nach auch, dass der Diskurs über Afrika nicht ohne Afrikaner stattfinden darf, ja noch mehr, dass sie dabei das Sagen haben und die Leute aus dem Westen einfach mal schweigen, Fragen stellen, aber den Diskurs nicht überlagern. Zum Glück darf ich in Mali frei reden, weil Vertrauen entstanden ist und die Leute es schon honorieren, dass man viele Jahre seines Lebens mit ihnen verbracht hat ...



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