Koloniale Geister besiegen - 2. Von Privilegien und Verzicht

Simon D. (AM): Alfred, wann ist Dir zum ersten Mal bewusst geworden, dass Du als Missionar aus dem Westen privilegiert bist? 

Alfred: Privilegiert bin ich im positiven Sinne. So richtig bewusst geworden ist mir das im Rahmen der Reflexionen zu meiner Doktorarbeit mit dem Titel "Freiheit zum Verzicht", Ende der 1990er Jahre. Ich bin als Missionar aus Deutschland ein privilegierter Outsider und jemand, der die Freiheit hat, verantwortlich mit Privilegien umzugehen und, wenn erforderlich, auf sie zu verzichten. Ich bin Mitglied einer Organisation, die mich umsorgt, die sich um die Finanzierung der Schulbildung meiner Kinder kümmert und mich in medizinischen Notfällen herausholt. 

Simon D. (AM): Kannst Du konkrete Beispiele nennen, wo Ihr als Familie auf Privilegien verzichtet habt?

Alfred: Lass mich überlegen. Ich erinnere mich an die Zeit der Schwangerschaft unserer beiden jüngsten Kinder. Wir haben darauf verzichtet, zur Entbindung nach Deutschland zu fliegen, sondern haben uns dem malischen Gesundheitswesen "anvertraut" und gehofft, dass alles gut geht. Die letzte Schwangerschaft verlief nicht ohne Probleme, und die Klinik in Bamako hatte uns gesagt, dass sie zwar normale Geburten durchführen könnten, aber auf Eingriffe wie Kaiserschnitt nicht vorbereitet seien. Ein anderes Beispiel fällt mir ein. Im Jahr 1991 kam es zu Protesten gegen das damalige Militärregime. Die Unruhen breiteten sich bis in die Regionen aus. Wir sind trotzdem im Land geblieben, obwohl uns die Leute von der deutschen Botschaft zur Ausreise geraten hatten, und haben mit unseren Mitarbeitern gehofft, dass in unserer Gegend alles friedlich bleibt. Das Privileg der Ausreise in sichere Räume haben wir nicht in Anspruch genommen. Ich habe auf das Privileg des Postens des nationalen Leiters meiner Missionsgesellschaft verzichtet, um mich mehr der theologischen Ausbildung widmen zu können. Es gab also Situationen, wo wir bewusst auf Privilegien wie medizinischen Komfort, Sicherheit und Machteinfluss verzichtet haben.

Simon D. (AM): Danke für die Beispiele ...

Alfred: Gerne. Es gibt für mich aber ein großes Privileg, auf das ich nicht verzichten will, auf das ich stolz bin. Ich bin privilegiert, weil ich Gottes Mitarbeiter bin in seiner großen Welt, weil ich neue Sprachen lernen darf, weil ich von Menschen in anderen Kulturen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten darf. In diesem relationalen Kontext dürfen wir aufeinander hören. Der offene, vertrauensvolle Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ist ein großes Privileg. Und dann - gemeinsam unsere Ressourcen teilen, die jeder einbringen kann. So können wir den Sprung hinauswagen aus den soziologischen Zellen, in die hinein uns die Analysten des kolonialen Zeitalters stecken wollen. Zuhören und koloniale Geister besiegen kann ich nur, wenn ich mich nicht in Schubladen steckenlasse, auch nicht in anti- oder postkoloniale. Ich habe mich immer wohlgefühlt in der Gegenwart von Maliern, älteren Männern und Frauen, im Staub eines Hofes und bei einem Glas Tee. Sie wussten um die Vergangenheit. Sie brachten ab und zu erlebte Demütigungen zur Sprache und haben mich, den jüngeren Missionar aus Deutschland, trotzdem virtuell in den Arm genommen, mir eine Chance gegeben und das Gefühl vermittelt: Schön, dass du hier bist. Lass uns gemeinsam Jesus und seiner Gemeinde dienen und eine bessere Zukunft gestalten, trotz der belasteten europäisch afrikanischen Geschichte. 

Ich bin seit über 30 Jahren Missionar in Westafrika. It's my life! Wir haben uns dadurch, dass wir das Evangelium weitergesagt und gelebt haben auch für eine stärkere Position von Frauen in Kirche und Gesellschaft und für mehr Chancengleichheit zwischen Jungs und Mädchen eingesetzt, uns aus kirchenpolitischen Machtpositionen ausgeklinkt, gegen rassistische Vorurteile gekämpft und uns der historischen Verantwortung gestellt. Von daher kann ich mit den aufgezwungenen Einordnungen aus der feministischen bzw. antiimperialistischen Ecke in meiner beruflichen Praxis und Biografie wenig anfangen. Etwas anfangen kann ich damit, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen, zuhören und uns immer wieder in Verzeihung üben.

Natürlich gehören die meisten weißen Europäer und Amerikaner zu den in vielerlei Hinsicht privilegierten Leuten. Wenige ältere westliche Herrschaften aus Politik und Wirtschaft sitzen an vielen entscheidenden Hebeln der Macht und haben gerade im Zeitalter des Kolonialismus viel Unheil angerichtet und verletzte Seelen hinterlassen. Es ist an der Zeit, dass Leute aus dem globalen Süden mehr Positionen in internationalen Gremien erhalten und helfen, Missionsstrategien, Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgewogener zu gestalten. Das Erstarken der sogenannten BRICS-Staaten ist ein Zeichen in diese Richtung. 

Es wäre jedoch viel zu einfach, Privilegien und Machtmissbrauch einseitig mit der weißen Hautfarbe, der weißen Kultur oder dem Lebensalter zu verbinden und im klassischen kolonialen Setting von Nord-Süd anzusiedeln. Was ich wahrnehme ist: Auch in den Ländern des globalen Südens gibt es Machtbesessene und "old coloured men", die patriarchalisch auftreten, die Frauen schlecht behandeln, die ihr Volk betrügen, indem sie Gelder ins Ausland schaffen und in die "private Familienkasse" wirtschaften, die Privilegien haben und sie nutzen, um sich von anderen hervorzuheben, oder ihre Machtposition zu missbrauchen. In Mali gibt es Leute, die reich sind, die ihre Kinder ins Ausland zum Studium schicken, die verantwortliche Posten begleiten und absolut privilegiert sind. Auch in den ehemals kolonialisierten Ländern des Südens oder Ostens gibt es Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung - also Phänomene, unter denen diese Völker in der Kolonialzeit selber gelitten haben. Man muss nur Malier fragen, die in der Elfenbeinküste leben. Oder in Uganda ... 1972 hat der Ugander Idi Amin Inder des Landes verwiesen, die Industrie und Handel als britische Staatsbürger dominierten. Joachim Buwembo, ein ugandischer Journalist, spricht von einer "gewaltfreien ethnischen Säuberung". Amin ließ einen führenden indischen Geschäftsmann als Druckmittel festnehmen und zwang die Inder, Uganda binnen 90 Tagen zu verlassen. Die Inder hatten sich geweigert, die ihnen angebotene ugandische Staatsbürgerschaft anzunehmen und sich stattdessen auf die privilegierte Zugehörigkeit zur alten englischen Kolonialmacht berufen, nachzulesen in einem Artikel der taz vom 10.7.2022. Afrikaner, die in Indien leben und studieren, beklagen sich über rassistische Übergriffe, und Inder sagen offen, dass ihnen die afrikanische Kultur nicht passt. Das berichtete der Deutschlandfunk schon vor ein paar Jahren am 16.7.2016. Menschen, die ihre Macht missbrauchen oder Privilegien in Anspruch nehmen, um sich Vorteile zu verschaffen, die gibt es offensichtlich überall. 

Als jemand, der seit Jahrzehnten mit Westafrika verbunden ist und dort gelebt hat, kann ich nicht anders, als die Entwicklungen beim Namen zu nennen. Ich bin ja selbst ein im Kontext Betroffener. Oft waren es Malier selber, die mich im Austausch auf interne Fehlentwicklungen in ihrer Gesellschaft aufmerksam gemacht haben, ohne sich in koloniale Bezüge zu flüchten. Diese Beobachtungen entlassen mich jedoch nicht aus meiner eigenen Verantwortung und darf nicht zur Relativierung des eigenen Umgangs mit Privilegien und Einfluss führen. 



Fragen und Antworten zum Thema "Koloniale Geister besiegen"

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5.  Missionare der Allianz Mission als Profiteure des Kolonialismus in China 

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