Die Welt ist in Bewegung - von irgendwo nach überall

1. Die Welt ist in Bewegung - Multidirektionalität und Polyzentrik in der Weltmission.

"Unsere Gemeinde wurde von einem Pastor aus Ghana gegründet, der von seiner Gemeinde in Accra zu uns geschickt wurde." - "Die Internationale Gemeinde, zu der ich gehöre, wird von Christen besucht, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe mitbringen. Unser Pastor ist ein Deutsch-Kameruner. Der Leitungskreis ist multikulturell besetzt". - "Wir sind eine afrikanische Gemeinde in Deutschland, und einige von uns fahren jedes Jahr nach Guinea, um Kindern in einer Schule Workshops zu sozialen Themen anzubieten". - So sieht die Gegenwart an manchen Orten aus. Die fingierten Szenarien sind schon jetzt typische Modelle eines multidirektionalen Christentums.  

Die Missionsbewegung war schon immer sehr dynamisch. Multidirektionale Initiativen, die von unterschiedlichen Zentren ausgingen (Polyzentrik), gehören dazu. Dies ist jedoch durch eine monozentrische Geschichtsschreibung, die meist vom Westen dominiert wurde, vielfach verdeckt geblieben. Die Quellen sind rar. Hinzu kam, dass seit der frühen Neuzeit der Aufbruch in die Neue Welt und die europäischen Christianisierungsversuche nur eine Richtung kannten - eine von Europa in den Rest der Welt ausgehende (from the West to the rest; z.B. von Portugal nach Lateinamerika oder nach Asien, von England nach Afrika usw.)

Die Vision von der christlichen Mission als einer multidirektionalen Dynamik, die alle sechs Kontinente miteinander verbindet, wird heute von Missionswissenschaftlern in allen Bereichen der Kirche weitgehend, wenn auch noch nicht allgemein, geteilt. Wie diese Vision in geeignete Strukturen eingebettet werden kann, ist eine Frage, für die es eine Vielzahl von Lösungen gibt, von denen vielleicht keine einzige endgültig ist. Verschiedene Missionspolitiken sind bei der Umsetzung dieser Vision auf unterschiedliche Hindernisse gestoßen. Vielleicht müssen wir es auch einfach dem "göttlichen Zufall" überlassen. Zum Glück hängt nicht alles von "unserer Missionspolitik" ab.

Die Multidirektionalität und Polyzentrik in der Mission belegen die umfangreiche Wirksamkeit und Teilhabe an der Mission Gottes in Vergangenheit und Gegenwart.

Gottes souveränes Handeln in der Mission ist  es zu verdanken, dass positive und negative geschichtliche Entwicklungen zur Erreichung missionarischer Ziele dienen. Partnerschaftliche Kooperationen auf kirchlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene, interkultureller Austausch von Zivilgesellschaften, unterschiedlich motivierte Migrationsbewegungen und diasporische Situationen, auf Expansion ausgerichtete Kolonialmission und dialogbasierter ökumenischer Austausch u.a. sind von Menschen ausgelöste Phänomene, die Gott in sein missionarisches Handeln in der Welt einbezieht.

Meine "Antithesen":
1. Multidirektionale Mission auf das Konstrukt der revers mission/mission in retun und auf die Pole Nord-Süd/Süd-Nord, Zentrum/Rand, kolonial/antikolonial, aktiv/passiv zu reduzieren, führt zu einer historischen und theologischen Verengung.
2. Die Multidirektionalität auf geographische Verschiebungen zu reduzieren, führt in die Einseitigkeit, da die multidirektionale Erinnerungskultur und der multidirektionale Strategietransfer unberücksichtigt bleiben. 

2. Wir klären ein paar Begriffe.

Multidirektional - diesen Begriff haben nicht die Soziologen, Historiker oder Missionswissenschaftler erfunden. Er taucht in der Medizin auf. Dort gibt es die multidirektionale Schulterinstabilität - eine wohl genetische Veranlagung, die das Schultergelenk destabilisiert und zu multiplen Ausrenkungen in verschiedene Richtungen führen kann. Daneben gibt es die nicht krankhafte multidirektionale Hyperlaxität, einer über das normale Maß hinausgehenden Beweglichkeit des Schultergelenks. Mulitdirektional bedeutet also - "in oder aus mehreren Richtungen". Für die Übertragung der medizinischen Fakten auf die soziologischen Verschiebungen in der christlichen Missionsbewegung ist das ein guter Hinweis. Multidirektionalität sorgt für ein umfassendes Situationsbewusstsein.

Polyzentrisch - bezeichnet die Tatsache, dass es mehrere (griech.: polus = viele) unterschiedliche, parallel existierende Zentren gibt. In diesen Zentren wird Entwicklungspotenzial generiert. Dieser Begriff findet sich kurioserweise auch im Jazztanz. Dort bezeichnet er die Koordination zweier oder mehrerer körperlicher Bewegungszentren (z.B. Kopf, Schultergürtel, Brustkorb, Becken, Arme, Beine), die parallel, aber unabhängig voneinander bewegt werden. Dies führt zu einem hohen Maß an Ausdrucksstärke. Auch hier bietet sich eine Übertragung in den Bereich der christlichen Missionsbewegung an.  

Multidirektionalität setzt die Polyzentrik voraus. Multidirektionalität bezeichnet die Bewegung, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen kann. Polyzentrik zeigt das Vorhandensein von unterschiedlichen organisierten oder informellen Zentren auf, die sich im Laufe der Kirchengeschichte gebildet haben. Multidirektionalität zeigt den dynamischen, Polyzentrik eher den statischen Aspekt einer Bewegung auf.

Die Definitionen bezüglich der Konzepte von reverse mission, mission in return oder receiving mission sind nicht eindeutig. Das gebräuchliche reverse mission bezeichnet als Oberbegriff in Wirklichkeit mehrere voneinander zu unterscheidende Varianten.

SÜD-NORD: Reverse Mission (wörtl. „umgekehrte Mission“, alternativ: mission in return, wörtl. "Mission kehrt zurück") ist ein missiologisches Konzepte, das sich auf die Umkehrung der westlichen Missionsbemühungen seit dem 16. Jh. konzentriert. Christen aus Afrika, Asien und Lateinamerika (bisher Empfängerländer) schicken Missionare nach Europa und Nordamerika, also in solche Länder (Entsendeländer) die früher selber Missionare entsandt haben und jetzt vorwiegend postchristlich geprägt sind. Den Begriff reverse Mission gibt es etwa seit dem späten 20. Jahrhundert. Reverse mission ist oft, aber nicht immer, im soziologischen Setting von Migrationsbewegungen angesiedelt. (vgl. Matthew Ojo. 2007. "Reverse Mission". In Bonk, Jonathan J. (ed.). Encyclopedia of Mission and Missionaries. London)

NORD-SÜD: Return mission (wörtl. „Rückkehrmission“). Es handelt sich hier um ein alternatives Paradigma. Missionare werden von der nichtwestlichen Diaspora in den globalen Süden entsandt. Es kommt auch vor, dass Christen aus der afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Diaspora in Europa und Nordamerika zurückkehren, um in den Herkunftsländern ihrer Vorfahren in Afrika, Lateinamerika und Asien missionarisch tätig zu sein. (Alexander Chow. 2019. "Jonathan Chao and 'Return Mission': The Case of the Calvinist Revival in China". Mission Studies. 36 (3)

SÜD-NORD: Receiving mission (wörtl. "empfangende Mission") bezeichnet das Empfangen von Missionarinnen und Missionaren aus dem globalen Süden, um sie zu fördern. Westliche Kirchen und Missionsorganisationen in Europa und Amerika helfen solchen Missionaren im Westen strategisch, finanziell und kulturell Fuß zu fassen. In der Praxis gibt es dieses Phänomen auch in der Nord-Süd-Richtung, wo Missionare aus dem Nord/Westen von Kirchen aus dem globalen Süden eingeladen und empfangen werden.

Kritik: Einige haben die Terminologie kritisiert, da in der Realität der Erfolg der Mission weniger in der Bekehrung von Europäern und Nordamerikanern liegt, als in der Leitung von eingewanderten Kirchen in diesen Ländern. Andere haben moniert, dass die Begriffe reverse mission bzw. mission in return parallel zur Entkolonialisierung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas entstanden sind und verwendet wurden, um die Machtverschiebung vom Westen, der minority world, zur majority world zu betonen. Untersuchungen haben ergeben, dass die nicht diasporisch basierte Missionsarbeit in westlichen Ländern mehr Erfolg hat als die Mission, die von internationalen Diaspora- oder Migarationsgemeinden ausgeht. Nicht diasporisch bedeutet, dass Gemeinden und Organisationen aus dem globalen Süden auf direktem Wege Missionare in den Westen entsenden. Die starke pentekostal-charismatische Ausrichtung erweist sich (noch) als ein Nachteil im postchristlichen Europa (vgl. Paul Freston 2010. Reverse Mission: A Discourse In Search Of Reality?, January 2010, PentecoStudies 9(2).

3. Geographische Multidirektionalität und Polyzentrik in der Missionsgeschichte.

In der Missionsgeschichte beobachten wir zunächst eine geographische Multidirektionalität. Missionsbewegungen verschieben sich im globalen Kontext. Parallel oder zeitversetzt und unabhängig voneinander haben sich unterschiedliche Zentren gebildet, die für die multidirektionale Dynamik der Mission standen. Dazu einige Beispiele:

  • Die apostolische Mission war multidirektional. Der Legende nach sind die Apostel nach Pfingsten in alle Himmelsrichtungen gereist, um das Evangelium zu verkündigen. Justin der Märtyrer schrieb um 165: "Zwölf Leute sind ausgezogen, die Welt zu erobern."  Andreas ging nach Sythien, Johannes nach Kleinasien, Petrus versorgte die jüdische Diaspora im Römischen Reich, Paulus zog es nach Antiochia, Jerusalem, Illyrien und Rom. Thomas ging bis nach Indien. 
  • In Indien leben noch heute ca. 7 Millionen Thomaschristen, die unterschiedlichen Denominationen angehören. Dies zeigt, dass die vom Nahen Osten ausgehende Mission sich eigenständig im fernöstlichen Kontext Indiens fortgesetzt hat. Als Vasco da Gama 1498 nach Indien kam, machte er sich auf die Suche nach Gewürzen und "den Thomaschristen", von denen er einige zu treffen hoffte. Franz Xaver entdeckte im 16. Jahrhundert auf seiner Missionsreise nach Asien (Indien, China, Japan) christliche Dörfer der Paraver (Fischer) an der indischen Küste, die ab 1535 im Zuge einer Selbstevangelisierung zum katholischen Glauben übertraten.
  • Die Nestorianermission breitete sich vom Syrien über Persien bis nach China und andere Regionen Zentralasiens aus. In der gleichen Epoche nahm im Westen die Christianisierung Europas Fahrt auf. Die Nestorianermission geschah unabhängig von der offiziellen Kirche, weil es konfessionelle Unterschiede gab. Die nestorianische Bewegung bestand vom 5. bis zum 14. Jahrhundert. Die Ausbreitung des Islam im 14. Jahrhundert führte zur fast vollständigen Vernichtung der Nestorianer. Als die Jesuitenmissionare um Matteo Ricci im 16. Jahrhundert nach China kamen, stießen sie auf Reste des alten Christentums.
  • Die Missionsarbeit unter den Goten in Süd-Osteuropa war arianisch geprägt, entsprach also nicht der Linie der offiziellen Kirche in Rom. Wulfila startete seine Arbeit unabhängig.
  • In Herrenhut entstand im 18. Jahrhundert eine vom Grafen Zinzendorf geleitete Gemeinde und Missionszentrale, die Missionare in alle Himmelsrichtungen gesandt hat, von Grönland, bis auf die  Antillen und nach Südafrika.
  • In Äthiopien bildete sich nach dem Abzug der Jesuiten im 17. Jahrhundert ein eigenständiges christliches Zentrum. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte ein zweite vom Westen ausgehende "Missionierungswelle". Bis dato wurden Missionare abgewiesen, weil die Äthiopier sagten: "Wir sind schon Christen". Der Äthiopismus ist in der Forschung bekannt als ein nicht vom Kolonialisms konnotiertes Phänomen, dass die Eigenständigkeit und Eigeninitiative afrikanischen Christentums herausstellt. Diese Erkenntnis spielt auch bei den postmodernen afrikanischen multidirektionalen Missionisinitiativen eine Rolle. 
  • Die Christianisierung Koreas begann im 18. Jahhrundert, also vor der Ankunft des ersten westlichen Missionars Pierre Maubante im Jahre 1836. Ein konfuzianischer Gelehrter kam in China 1783 mit christlichen Traktaten der Jesuiten in Kontakt. Koreanische Gelehrtenkollegen schlossen sich ihm nach seiner Rückkehr an und starteten eine katholisch christliche Bewegung. Bevor die ersten Protestanten 1883 das Land betraten, hatte sich schon eine christliche Gemeinschaft per Selbstevangelisierung gebildet, an die angeknüpft werden konnte. Der Grundsatz der indigenous church war schon vor John Nevius (1885) anerkannte Praxis. Protestantische koreanische Christen waren schon vor dem 1. Weltkrieg inlandmissionarisch tätig und entsandten Missionare auf Hawai, nach China, nach Mexiko und in die Mandschurei, wo sie koreanische Migranten zu erreichen versuchten. Bei der Auswahl der Regionen ist man Migranten und der sich bildenden Diaspora gefolgt.
  • Das im Britischen Empire gängige System der indentured labour (Zwangsarbeit) führte zu einer hohen Mobilität in und aus den verschiedenen englischen Kolonien. Das Christentum kam auf diesem Weg während des 19. Jahrhunderts nach Sri Lanka, in die Karibik, nach Mauritius oder nach Süd- und Ostafrika. Indische Christen kamen als christliche Kontraktarbeiter nach Singapur, Südafrika, Mauritius, Fidschi, British Guyana, Trinidad sowie nach Uganda.
  • Im westafrikanischen Sierra Leone bildeten gegen Ende des 18. Jahrhunderts die christlichen, befreiten Sklaven aus Kanada und den USA die erste Gemeinde, die auch missionarisch tätig war, bevor die westlichen Missionare in großem Stil ihre Arbeit starteten.
  • In Großbritannien, Frankreich/Schweiz, Dänemark, Deutschland und Nordamerika haben sich teilweise parallel und unabhängig voneinander oder durch gegenseitige Beeinflussung Missionszentren gebildet, die die Missionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert dominiert haben. London, Paris, Berlin, Wuppertal, Leipzig, Kansas u.v.a. waren Städte, wo große Missionsgesellschaften beheimatet waren.
  • Kyrill und Method waren Mönche, Theologen und Priester und in den byzanthinischen Regierungskreisen sehr geschätzt. Sie kamen aus Griechenland (Thessaloniki) und evangelisierten unter verschiedenen slawischen Völkern. Von da aus breitete sich der christliche Glaube weiter nach Norden aus bis in die heutige Ukraine und nach Russland
  • Die Orthodoxe Kirche in Russland hat im Laufe des 19. Jahrhunderts umfangreiche Missionstätigkeiten ausgeführt, die bis nach Japan reichten. Die orthodoxe Missionsbewegung wurde durch Mönchssiedlungen im Laufe der langsam fortschreitenden Osterweiterung des russischen Reiches geprägt. Im 19. Jahrhundert evangelisierten russisch-orthodoxe Missionare koreanische Flüchtlinge, die den christlichen Glauben später mit in ihre Heimat nahmen. Bereits um 1727 gelang es, ausgelöst durch die Präsenz russisch-orthodoxer Kriegsgefangener in China, eine Missionsstation in der Nähe von Peking zu errichten.
  • Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts entwickeln sich in den ehemaligen "Missionsländern" wichtige Missionsinitiativen, z.B. in Korea, Brasilien, Ghana, Nigeria u.a. 
  • Im 21. Jahrhundert sind z.B. der Kongo und die Elfenbeinküste, aber auch Nigeria und Ghana wichtige afrikanische "Sendeländer" für das postchristliche Europa und für Afrika geworden, obwohl dort immer noch Missionare aus dem Westen arbeiten.
  • Brasilien und Korea stehen für das gleiche Phänomen in Lateinamerika und Asien.

In der Missionsgeschichte beobachten wir viele Initiativen, die sich vom sozialen oder konfessionellen Rand in die Welt bewegt haben. Viele Missionsinitiativen sind schon vor der Ankunft westlicher Missionare zu beobachten. Davon erfahren haben wir aufgrund westlicher Ignoranz erst später. Die zitierten Beispiele beweisen mehrheitlich, dass die Missionsbewegung nicht auf Zwang und ideologisch gefärbte Missionsierungsversuche angewiesen war. Gottes souveräner Mission ist es zu verdanken, dass wir christliche Spuren dort finden, wo wir sie längst verloren geglaubt haben. Es ist die dem Evangelium innewohnende Überzeugungskraft, die letztlich den Erfolg der Missionsbewegung ausmacht. Jemand hat irgendwann irgendwo den Samen ausgestreut oder gar zufällig verloren - und der fängt an zu wachsen. Silent mission on mysterious paths. Lost in sight and yet effective. In einem Kreis gibt es nur einen Mittelpunkt, ein Zentrum. Auf einer Kugel kann jeder Punkt ein Mittelpunkt sein, und jeder Ort, von dem eine Missionsinitiative ausgeht, ist ein Zentrum. Wenn wir das recht bedenken, dann ist der vielfach beschworene Shift in der Missionsbewegung hin zur multidirektionalen Weltmission keine Überraschung, denn sie hat es schon immer gegeben.

4. Historische Multidirektionalität in der Missionsgeschichte.

Neben den geographischen Verschiebungen entsteht eine multidirektionale Erinnerungskultur. Sie verbindet Gegenwart und Vergangenheit. Deshalb spreche ich von der diachronischen Perspektive. Der aus der Linguistik entlehnte Begriff meint in unserem Zusammenhang die Betrachtung der unterschiedlichen geschichtlichen Ebenen. Dabei entdecken wir Parallelen, obwohl die Bewegungen unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Anderseits entdecken wir auch Ursache-Wirkungszusammenhänge, wo aufgezeigt werden kann, dass das, was wir heute erkennen, in der Vergangenheit angelegt ist. Wer in die Geschichte schaut, der kommt "von Hölzchen aufs Stöckchen". Er stößt auf diachronische Querverweise, die er nicht gesucht hat.

Das Konzept der multidirektionalen Erinnerung stammt aus der Literaturwissenschaft und wurde durch Michael Rothberg in den 1990er Jahren einem größeren Publikum bekannt. Er verglich Geschichten, die bestimmte, meist traumatische Entwicklungen, zum Inhalt hatten. Dabei wurde ihm deutlich, dass dann, wenn man sich mit dem Holocaust beschäftigt, man auch an die Geschichte der Sklaverei denkt und tatsächlich Parallelen entdeckt. Menschen, die sich mit Revolutionskriegen beschäftigen, werden auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg in den 1950er Jahren verwiesen. Man könnte auf die Idee kommen, die euopäische Geschichte des Spätmittelalters (13.-14. Jahrhundert) mit den gleichsam bedeutenden und einflussreichen westafrikanischen Reichen von Ghana, Mali und Songhai in Verbindung zu bringen. Man wäre erstaunt über den Reichtum und die ambitionierte Politik der westafrikanischen Herrscher und über Afrikas Rolle bei der Reise in das Zeitalter der Moderne. Wer an die koloniale Eroberung Afrikas denkt, dessen Gedanken werden in die Zeit der Eroberung des amerikanischen Westen gelenkt. In der Erinnerung ergeben sich so Verbindungen, wo die Rollen von Täter und Opfer unterschiedlich verteilt sind. Manchmal kommt es zu komplementären Einsichten, manchmal konkurrieren die Erkenntnisse miteinander. Während die Juden den Holocaust für "unüberbietbar schrecklich" erachten, sagen Afrikaner das Gleiche von der Sklaverei, die manche als den "schwarzen Holokaust" bezeichnen. Wer als Historiker an die heutige Migrationsbewegungen denkt, der wird möglicherweise auch an die sogenannte "Völkerwanderungen" in der Spätantike erinnert, die zu erheblichen kulturellen und machtpolitischen Verwerfungen geführt haben. 

Der historische Blick als multidirektionale Erinnerung lässt sich leicht auf die Missionsgeschichte anwenden. Im Blick auf die Geschichte wird meine Erinnerung in unterschiedliche Richtungen gelenkt. Wer heute an Verfolgungsgeschichten denkt, der wird an die Verfolgung der ersten Christen im Römischen Reich erinnert und an das "Blut der Märtyrer, der zum Samen der Kirche" (Tertullian) wurde. Wenn ich an die Befreiungstheologie denke, dann wandern meine Gedanken in die Zeit der Iberischen Mission in Lateinamerika und stoßen auf Bartholome de las Casas, der von einigen als der "Urvater der Befreiungstheologie" gehandelt wird. Wenn ich an einen nigerianischen Missionar in England denke, dann denke ich an afro-amerikanische Missionare, die in Westafrika als Missionare unterwegs waren. Der Nigerianer kehrt in das Land zurück, aus dem das Christentum in sein Heimatland gelangt ist. Der Afro-amerikanische Missionar kehrt zurück zu den kulturellen Wurzeln seiner Vorfahren, oder zur afrikanischen Multikultur, die im Zeitraum des Black Atlantic (Zeit des Sklavenhandels zwischen Afrika, Europa und Amerika) entstanden ist. Die Missionsstrategie der Herrenhuter Brüdergemeine aus dem 18. Jahrhundert weißt Parallelen zu der jugendmissionarischen Bewegung von "Jugend mit einer Mission" auf, obwohl sie in unterschiedlichen Zeiten unterwegs waren. Die Inspiration der damaligen parakirchlichen Laienbewegung nahm ihren Weg durch die Geschichte. Wer an Herrenhut denkt, der denkt an die Dänisch-Hallesche Mission, die beide pietistisch geprägt waren, aber ganz unterschiedliche Strategien umgesetzt haben und aus ganz unterschiedlichen Gründen Erfolge oder Misserfolge zu verzeichnen hatten. Wer an die Kolonialmission denkt, der beginnt multidirektional zu denken. Da taucht das Lateinamerika des 16. Jahrhunderts auf neben dem Afrika des 19. Jahrhundert. Dabei entdeckt man auch die Parallelen, den Geist der Zeit, den Rassismus, die Superiorität, die Gewalt, die Diskriminierung. Diese Zeitgeister haben sich durch die Zeiten geschlichen und haben an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten vergleichbares Unrecht angerichtet. Die Theologiegeschichte des Kulturprotestantismus seit ca. 1860 entpuppt sich als Ursache für den Geist der zivilisatorischen Überlegenheit, der die evangelische Missionsarbeit in jener Zeit geprägt hat. Der multidirektionale Blick in die Vergangenheit öffnet Augen, ermöglicht Lernprozesse, lässt gelassene Erkenntnis zu, der man so leicht nichts mehr vormachen kann.

5.  Strategische Multidirektionalität 

Gründe für die strategische Monodirektionalität: Die Vision einer Missionsbewegung, die from anywhere to everywhere (von irgendwo nach überall) funktioniert, ist schon 1963 während der ökumenischen Konferenz in Mexiko formuliert worden. Warum wurde die sich schon längst abzeichnende Veränderung in der Weltmission im pietistisch-evangelischen Bereich so stiefmütterlich behandelt? Brian Stanley sieht einen Grund in der Strategie der klassischen Glaubensmissionen und schrieb im Jahr 2003: "Glaubensmissionen wurden manchmal durch das von Hudson Taylor so stark vertretene Ideal des göttlich berufenen einzelnen Leiters behindert, der sich sowohl über die Entscheidungen der Ausschüsse als auch über die Ansichten der nationalen Kirche hinwegsetzen und die Missionsfahnen mit der strategischen Zuversicht und der höchsten Autorität eines Militärgenerals über die Landkarte schwenken konnte. Die Überzeugung, dass die strukturelle Unabhängigkeit der internationalen Mission von der nationalen Kirche bewahrt werden muss, ist in weiten Teilen der Missionstradition verankert."

Stanley macht einen wichtigen Punkt. Noch heute scheint es so zu sein, dass (die meisten) Gemeindeverbände "heil froh" sind, wenn Missionsgesellschaften mit einer gewissen Freiheit versehen, die missionarischen Geschäfte in strategischen Grenzgebieten und in der kulturellen Fremde erledigen. Hier und da gibt es personelle und strukturelle Verzahnungen. So können z.B. bei der Allianz-Mission Gemeinden Mitglieder des Vereins werden und die Allianz-Mission fungiert als Bundeswerk im Bund Freier ev. Gemeinden, dessen Präses im Aufsichtsrat vertreten ist. Gemeinden unterstützen die Missionsarbeit vorwiegend durch Geldzuwendungen, Gebete und die "Bereitstellung" von Personal. Vereinsrechtlich sind die meisten Missionsgesellschaften autonom - in der Festlegung ihrer Strategien, Ziele und Arbeitsbereiche, der Rekrutierung von Personal und der Verwaltung des Budgets. 

Doch andererseits gilt es, den Standpunkt von Stanley zu relativieren. Ohne Missionsgesellschaften und ohne Persönlichkeiten wie Hudson Taylor wäre es sehr schlecht bestellt gewesen um den missionarischen Elan. Taylor war nicht nur Missionar in China, sondern auch ein globaler Mobilisator in Europa und den USA, um junge Christen aus den Gemeinden zum Engagement in der Weltmission zu motivieren, und das mit Erfolg. Die Kirchen kamen nicht in Schwung. Sie hätten gedurft und gekonnt, aber sie wollten nicht. Viele Pastoren standen daneben. Die Missionsgemeinde, d.h. die missionsgesinnten Christen aus den Kirchen, mussten sich parakirchlich organisieren. Ohne diese strategische Konstellation wäre es nicht zu der großen Anzahl von Gemeindegründungen in Übersee gekommen. 

Die Weltmission war nie zu 100 % Sache der organisierten Kirche, wohl aber die der Apostel und der missionsgesinnten Christen, die Kirchen angehörten.

Auf diese Weise entstanden Parallelstrukturen, die bei den nationalen Gemeinden im In- und Ausland zu dem Eindruck führten, Mission sei vorwiegend Sache der westlichen Missionsorganisationen und der gut ausgebildeten und materiell ausgestatteten Spezialisten. Die einen zieht es in die Ferne, die anderen bleiben vor Ort. Weltmission ging von einem fernen Zentrum aus und bewegte sich von dort an den globalen Rand. Dieses Phänomen bezeichne ich als strategische Monodirektionalität. Einige sprechen abwertend von der sogenannten "elitären Mission". Der Gedanke der Mission begann sich an der breiten kirchlichen Basis nur zögerlich zu etablieren. Heute arbeiten Missionsgesellschaften oft integriert. Gemeinden laden zur ökumenischen Zusammenarbeit ein. Missionare kommen nicht einfach, ohne gefragt zu werden. Sie sind Gäste. Das ist ein strategischer Richtungswechsel, der sich in der postokolonialen Zeit etabliert hat.

Was bedeutet strategische Multidirektionalität? Zur Souveränität der Mission Gottes gehört, dass es diverse Strategien geben kann, die sich an unterschiedlichen Orten herausbilden und sich in unterschiedlichen Richtungen und Kontexten bewähren. 

Die Weltmission lebt nicht nur von der Diversität der Missionsstrategien, sondern in erheblichem Maße vom multidirektionalen Strategietransfer. 

Das moderne strategische Konzept der integralen Mission z.B. entstand in Südamerika und Asien und hat sich zum "multidirektionalen Exportschlager" entwickelt. Die Idee des parakirchlichen Missionsvereins oder Missionsgesellschaft als einer zivilgesellschaftlichen Plattform breitete sich in unterschiedlichen Richtungen aus. Sie entstanden sowohl in europäischen Ländern als auch in Amerika und später in den Ländern des Globalen Südens bzw. klassischen "Empfängerländern". In Mali klinken sich Pastoren oft in lokale oder internationale christliche Organisationen ein, die unabhängig von Ortsgemeinden funktionierten. Auch das ist ein Strategiewechsel, der von den Christen in den Gemeinden nicht immer positiv rezipiert wird, weil hier Prestige eine Rolle spielt.

Die Diversität der Missionsstrategien bereichert und erleichtert die Multidirektionalität in der Weltmission. 

Die Jünger und Nachfolger Jesu stehen für beides, für das missionarische Zeugnis aller, die zur Gemeinde gehören (Apg. 1,8; 2,42; Winter: modality), und für die besondere Sendung der Apostel (Matth 28,19-20; Apg. 9,15; 13,1-3; Winter: sodality). Beide Formate spiegeln die Teilhabe der Gemeinde Jesu an der Mission Gottes und sind richtungsweisend für die Weltmission. Die erste Gemeinde in Jerusalem hat sowohl die "konfrontative  Wortverkündigung und Wundertaten einschließende Mission" (Apg 3-4) praktiziert, als auch die "präsentische, Leid und soziale Anerkennung einschließende Mission ", als eine Vorform missionalen Lebensstils (Apg 2,42). Diese Formen finden sich später an unterschiedlichen Orten wieder.


Eine Gemeinde kann nur dann missionarisch werden, wenn sie zuvor gepflanzt und gegründet wurde. Diese Aufgabe haben in der Antike oft einfache Christen in der Diaspora übernommen, aber auch in der pioniermissionarischen Arbeit tätige Apostel, die für den besonderen Auftrag ausgesondert wurden. 

Die Mission Gottes umfasst die Sendung bis an die Enden der Erde. Sie geschieht weltweit. Die lokale und globale Mission geschehen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Wir können nicht abwarten, bis eine Migrationsbewegung eine diasporische Situation schafft, wo dann "missionarisch gesinnte Christen" den Auftrag der Mission erfüllen. Um die Enden der Erde zu erreichen oder besonderen strategischen Herausforderungen zu begegnen, hat die Kirche Sonderbeauftragte, d.h. Missionare, entsandt, die Gott berufen hat. Dazu gehörten klassischerweise Ordensleute, Bischöfe, Priester, Nonnen, aber auch Handwerker, Theologen, u.a. Auf katholischer Seite waren sie oft eigenständig organisiert, aber dennoch im Namen von Papst und Kirche global tätig. Bonifatius, auch Apostel der Deutschen genannt, war z. B. Mönch, ein vom Papst zum  Bischof ernannter Missionar und Kirchenreformer. Auf evangelischer Seite stand die organisierte Kirche jedoch nicht immer hinter den Missionaren, doch waren sie trotzdem im Namen der Gemeinde Jesu unterwegs. Unterstützt wurden sie von Missionsfreunden.

Missionsgesellschaften und Missionsorden repräsentieren die Gemeinde im globalen Kontext. Sie haben aber auch die Aufgabe, im In- und Ausland, die Gemeinden an ihr missionarisches Mandat zu erinnern. Die apostolische Funktion dient nicht nur der Mission nach außen, sondern auch der Zurüstung der Gemeinde nach innen (Eph 4,11-12). Sie ist multidirektional. Damit wird dem Eindruck widersprochen, man könne die Weltmission an Spezialisten delegieren. Die Aufgabe der Zurüstung und der Integration der Ortsgemeinde in das missionarische Geschehen ist seitens der westlichen Missionare oftmals aus unterschiedlichen Gründen vernachlässigt worden.  

Gleiche Strategie in unterschiedlichen Richtungen: Die Mission Gottes geschieht im lokalen Kontext, wo Gemeinden ihr Umfeld erreichen wie z.B. in Mazedonien (1 Tim 1,4-8). Die Strategie lautet hier: Gemeinden gründen Gemeinden im lokalen Kontext. Parallel dazu existierte die Strategie; Apostel gründen Gemeinden im globalen Kontext.

Unterschiedliche Strategien in unterschiedlichen Richtungen: Die Gemeinde in Mazedonien war ein Vorbild für eine strategisch multidirektionale Mission. Sie wurde von Paulus und seinem Team gegründet (vom Osten ausgehende Evangelisation) und unterstützte nun die verarmte Gemeinde in Jerusalem (vom Westen ausgehendes soziales Engagement). Die "Mission kehrt zurück", aber strategisch anders.

Die Diaspora als Strategie multidirektionaler Mission: Die durch Verfolgung ausgelöste Diaspora war eine Form unfreiwilliger Migration. Gott hat dieses Faktum im Sinne einer missionsstrategischen  Multidirektionalität  genutzt. Gemeinden entstanden u.a. in Jordanien, Kleinasien, Rom und Alexandrien. Der apostolische Dienst des Petrus baut darauf auf (1Petrus 1,1). In Alexandrien entstand später, um 150 n. Chr., eine Katechetenschule, deren Gründer Pantaenus missionarisch in Indien unterwegs war. Heute stellen die Migrationsbewegungen aus missionsstrategischer Sicht eine andere Form von Multidirektionalität dar. Der Missionar geht nicht zu den Menschen, die Menschen kommen aus dem globalen Kontext zu ihm in den lokalen Kontext.

Antikoloniale Multidirektionalität: Ein interessantes strategisches Phänomen entdecken wir innerhalb der orthodoxen Glaubensgemeinschaft. Ciprian Burlacioiu weist in seinem Artikel "Orthodoxe Mission" von 2021 darauf hin. Die African Orthodox Church enstand als eine Initiative in den USA und breitete sich z.B. nach Südafrika, Simbabwe und Uganda aus. Es handelt sich um eine Art der Selbstmissionierung. Die meisten Anhänger hatten einen katholischen oder anglikanischen Background. Sie verstanden sich als ein antikoloniales Pendant zu der vom Westen ausgehenden imperial paternalistischen Kolonialmission. 

Postkoloniale Multidirektionalität: Heute tragen Unternehmer, Wissenschaftler und viele Christen in unterschiedlichen Berufen und Kontexten zur Weltmission bei. Ihre Zahl ist, wie schon in der Antike, größer als die Zahl der Berufsmissionare. Die Multidirektionalität betrifft die unterschiedlichen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Rollen. Es ist einfach zu sagen, die Weltmission sei "Sache der Gemeinden". Wenn diese Gemeinden, und die Geschichte beweist es, keine Vision für die Weltmission entwickeln, dann greift Gott in seiner Souveränität auch im postkolonialen Zeitalter auf andere strategische Möglichkeiten zurück.

In den Ländern der majority world übernehmen nationale Gemeindeverbände mittlerweile eigenständig pioniermissionarische Aufgaben. In Mali z.B. haben amerikanische Missionare in Zusammenarbeit mit malischen Mitarbeitern und Evangelisten erste Gemeinden gegründet, die in Distrikten organisiert sind. Die Distrikte organisieren in ihrem Wirkungsgebiet eigene missionarische Vorstöße. Missionare aus dem Ausland haben längst Aufgaben im Hintergrund übernommen oder sich zurückgezogen. Kirchen aus dem Globalen Süden sind nicht verpflichtet, das westliche Modell zu übernehmen. Wenn sie der Meinung sind, dass die Ortsgemeinden und nationalen Kirchen den Missionsauftrag ohne Spezialisten und Sonderbeauftragte erfüllen können, dann ist das ihre souveräne Entscheidung. Sie müssen ihren eigenen Weg und adäquate Strategien finden und ihren eigenen Beitrag zur Erfüllung des Missionsauftrags Jesu beisteuern. In Mali gibt es seit den 1990er Jahren malische Missionare. Die einen wurden von einer Kirche und die anderen von einer Missionsorganisation entsandt.

Als wir 1989 die Arbeit der Allianz-Mission im Zentrum Malis starteten, haben wir eine Anfrage an benachbarte Gemeindedistrikte gerichtet und um die Bereitstellung von malischen Pastoren zur Verstärkung unseres Teams gebeten. Durch diese Maßnahme wurde in den Gemeinden das Bewusstsein für ihre missionarische Verantwortung in ihrem Land geweckt. Aus Pastoren wurden Missionare, Evangelisten und Gemeindegründer. Es bedarf jedoch einer kontinuierlichen Erinnerung an das missionarische Mandat in den Gemeinden.

Das missionale Bewusstsein aller Christen und Gemeinden ist eine Voraussetzung für die multidirektionale Ausrichtung der Weltmission.                                                                               

Folgende Maßnahmen könnten helfen, missionales Bewusstsein zu schaffen:

  • stärkere apostolische Ausrichtung der Pastoren und der Gemeindeleitungen (missionale Mentalität),
  • stärkere Fokussierung auf die Missionstheologie in der Aus- und Fortbildung von Hauptamtlichen und den Mitgliedern der Gemeinden (Generalisierung des Missionsmandats)
  • stärkere Nutzung und Wertschätzung von lokalen materiellen und personellen Ressourcen (strategische Multidirektionalität)
  • das bewusste Zurücktreten ausländischer Missionare in den zweiten Rang, um lokale Initiativen zu unterstützen und multiplikatorisch tätig zu sein

Die Multidirektionalität in der Weltmission, die wir aktuell stark beobachten, wird hoffentlich dazu führen, dass die Gemeinden eine größere missionarische Verantwortung in ihren Kontexten übernehmen. Missionsgesellschaften haben immer noch ihre Existenzberechtigung, da sie über internationale Erfahrungen und  interkulturelle Kompetenz verfügen, die allen missional motivierten Akteuren eine Plattform bieten kann. Missionsorganisationen sind jedoch nur Stützen und ein Hilfsinstrument. Sie haben kein eigenes Mandat neben dem, was Jesus seinen Nachfolgern und den Aposteln und damit seiner Gemeinde anvertraut hat. Deshalb sollten Missionsgesellschaften gegenüber den Gemeindevertretern Rechenschaft ablegen und sie in die Verantwortung einbeziehen.

Missionare und missionarisch engagierte Christen und Christinnen haben durch ihre Pionierarbeit den Aufbruch in die multidirektionale Weltmission erst ermöglicht.     

6. Die theologischen Grundlagen der reverse mission aus der Sicht von Israel Olofinjana.

Israel Olofinjana ist ein englischer Baptistenpastor mit nigerianischem Background. Er begründet die reverse mission theologisch wie folgt:

1. Gott ist der erste Missionar. Jeder Christ und jede Kirche, gleich welcher Herkunft beteiligt sich an der globalen Mission Gottes. Wie Europäer sich als Missionare nach Afrika gerufen sehen, so sehen sich heute Afrikaner gerufen, nach Europa zu gehen. Die Mission Gottes ist in ihrer vorgeordneten Souveränität eine Plattform der Gleichberechtigung.

2. Neben den diasporischen Faktoren wie wirtschaftliche Rezession, Inflation, politische Diktatur und Instabilität, die Christen nach Europa "spült", gibt es wirkliche Missionare, die wegen des Evangeliums nach Europa kommen. Auch sie verlassen ihre Heimat, wo es ihnen möglicherweise besser ging als in Europa.

3. Die Weltmission hat keinen festen Hauptsitz mehr. Mission geschieht "von überall nach überall". Asien, Afrika, Südamerika und die Karibik sind nicht mehr nur Empfänger, sondern Geber und Mitwirkende der Weltmission. Das bedeutet nicht, dass Europa und Nordamerika aufgehört haben, Missionare in den globalen Süden oder den Rest der Welt zu schicken, sondern es bedeutet nur, dass das bisherige Monopol auf die Weltmission nicht mehr haltbar ist.

4. Gott benutzt die Diaspora von Menschen aus dem globalen Süden, unabhängig von deren Motive zur Migration, um seine Mission zu erfüllen. 

5. Die westliche Christenheit kann von den Missionaren und Pastoren des Globalen Südens lernen, weil es der gleiche Gott ist, der weltweit wirkt und Erkenntnis schenkt. 

Welche Lektionen können Europäer von Afrikanern lernen?

a. Gott ist im täglichen Leben präsent. Die afrikanische Spiritualität ist in die alltägliche Lebenswirklichkeit eingewoben. Dies wird zu einem robusten Christentum führen, das in der Lage ist, den aggressiven Säkularismus herauszufordern.

b. Gott kann nicht privatisiert werden. In Großbritannien neigen wir aufgrund unserer postmodernen säkularen oder post-säkularen Gesellschaft dazu, Gott auf unser Privatleben und unsere privaten Räume zu reduzieren. 

c.  Afrikanische Christen sind sehr zuversichtlich, was das Evangelium angeht, deshalb können wir lernen, wie wir dieses Vertrauen wiedergewinnen können.

Auch für Olofinjana ist der Begriff reverse mission nicht unproblematisch. Es geht ihm aber mehr um die Sache, als um den Begriff. Olofinjana schließt sein Statement wie folgt: "So wie Daniel und die drei hebräischen Kinder durch die Diaspora nach Babylon kamen und Gott sie benutzte, um dieses Reich zu verändern, so denke ich, dass Gott in gleicher Weise Christen aus dem globalen Süden benutzt, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind oder vor der einen oder anderen Form der Not fliehen, um Europa an Gott zu erinnern." 

Es ist wie beim Jazztanz, wo die Polyzentrik zur Ausdrucksstärke führt und unterschiedliche Kulturen, Denkweisen und Methoden einander befruchten können. Darin liegt für die globale Missionsbewegung eine große Chance.

7. Reaktionen auf die globalen Veränderungen aus der Sicht von Peter Rowan von Operation Mobilisation.

a. Wir begegnen der Entwicklung mit Offenheit. Das unveränderliche Anliegen der Mission Gottes braucht "neue Schläuche", um wieder neu zur Wirkung zu kommen. 

b. Wir lernen, Beziehungen zu unseren globalen Partnern aufzubauen, die von Vertrauen und Demut geprägt sind. Zur Demut gehört, dass wir die "Mission von den Rändern" ernst nehmen und von den alten Kategorien Abschied nehmen, die mit dem Schema "Vom privilegierten reichen, dominierenden, mächtigen Westen in den Rest der von Armut und Machtlosigkeit geprägten Welt" verbunden ist.

c. Wir verändern unsere Strategien und passen sie den neuen paradigmatischen Realitäten an.

d. Wir verändern die koloniale Sprache und Perspektive, die von Sendeländern, von Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit geprägt ist und respektieren die Reife, die Kirchen im Globalen Süden mittlerweile erreicht haben.

e. Wir lassen es zu, dass sich Evangelisation und Mobilisierung für die Weltmission strategisch überschneiden und Grenzen nicht mehr scharf gezogen werden. Die Kreativität und Eigenverantwortung soll in allen Dimensionen gefördert und anerkannt werden. 

Das voneinander Lernen fängt nicht mit dem Erteilen von Lektionen an, sondern mit dem Hören. Um hören zu können, benötigen wir Gemeinschaft und keine Distanz.

a. Wir bauen globale Netzwerke auf, die reziprokes Lernen ermöglichen. Wir ermutigen Kirchen, ihrerseits direkte Verbindung zu Gemeinden anderer Kulturkreise aufzubauen. Nur so können wir vom globalen Reichtum profitieren und ein realistisches Gesamtbild von der globalen Entwicklung erhalten (Krieg, Diaspora, Klimawandel, Einsamkeit der Minderheiten u.a.).

b. Im Zuhören erkennen wir unsere eigenen blinden Flecken und stellen so die Weichen für neues Wachstum im Glauben und in der Nachfolge.

c. Soong-Chan Rah sagt: "Wir müssen die Geschichten der Habenichtse kennen lernen und von denen lernen, die in der Theologie des Leidens leben".

d. Wir hören auf, die eigene kontextuelle  Theologie in andere Teile der Welt  zu exportieren und lernen, den interkulturellen Theologen der majority world zuzuhören. Westliche Theologen müssen ihre Arroganz aufgeben. Das reziproke Lernen unter Missionstheologen findet schon seit vielen Jahren statt, weil sie es gewohnt sind, sich im interkulturellen Setting auszutauschen, die jeweiligen Veröffentlichungen zur Kenntnis zu nehmen und sich einander auf Konferenzen einzuladen. Meine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass ich im direkten Gespräch mit meinen Theologenkollegen, telefonisch oder vor Ort ihre Meinung einholen kann und auch im Unterricht von den Studierenden lerne. 

Die optimale Lernsituation sind die zwei Stühle im Schatten eines Baumes in einem malischen Hof oder am Straßenrand, wo wir die gleiche Hitze und den gleichen Staub spüren und einander zuhören und reden. 

Das informelle Setting hat mir schon oft die Augen geöffnet, weil hier mehr Ehrlichkeit herrscht als in Seminarräumen und Gottesdiensten.
  • Ich frage einen Geschäftsmann, der vor  unserem Haus seinen Tee dringt, wen er mehr liebt, seine Mutter oder seinen Vater. Ich höre zu und lerne etwas über soziale Rollen und die Genderfrage in Mali.
  • Ich frage einen unserer Mitarbeiter, ob es in Mali auch Rassismus gibt und lerne, dass es ihn gibt, aber anders als im Westen. 
  • Ich rufe meinen malischen Kollegen an und frage, ob es in Bamako und in seiner Gemeinde auch Homosexuelle gibt. Ich höre zu und lerne seine Einstellung zu Minderheiten und seine ethische Position kennen. 

8. Warum es besser ist von Multidirektionalität zu reden als von mission in return oder reverse mission.

Bereits 1989 kam es zur Gründung der interkulturellen Vereinigung „Third World Missions Association“ in Portland, USA durch Vertreter aus Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika, die von den meisten im Westen immer noch vorwiegend als Missionsgebiete betrachtet werden. Im Zuge der Migrationsströme (weniger in den 1990er und verstärkt ab 2010er Jahren) entstehen basismissionarische Bewegungen und Initiativen von Missionarinnen und Missionaren aus dem globalen Süden in Nordamerika und Europa, die mehr oder weniger gut koordiniert sind. 

Die Graphiken visualisieren die Variationen der multidirektionalen Missionsansätze:


Das Phänomen der reverse mission wird von Historikern, Soziologen und Missionstheologen wahrgenommen und analysiert. Die westlichen Begriffe „mission in return“ bzw. „reverse mission“ werden seitens afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Theologen zwar verwendet, aber durchaus auch kritisch gesehen und zwar aus historischen und theologischen Gründen.

a. Historisch: Die Mission kehrt nicht nach Europa zurück, sagen sie, da sie z.B. in Nordafrika schon präsent war, bevor europäische Missionare ihre Missionsbewegung in Afrika starteten. Der Begriff suggeriert, dass Mission ursprünglich von westlichen Ländern erfunden worden sei. 

b. Theologisch: Vom Missio Dei-Konzept aus gedacht, „mission cannot be reversed if it is of God. … mission is a continuum of what God has done in Christ for the oikos throughout the ages” (dt. Mission kann nicht umgekehrt werden, wenn sie von Gott ist. ... Mission ist ein Kontinuum dessen, was Gott in Christus für den Oikos (Haus, hier: die Welt) durch die Jahrhunderte hindurch getan hat) (Joseph Bosco Bangura). Die Begrifflichkeit würde nur als vom Westen dominierte missio ecclesiae (Mission, die von der Gemeinde ausgeht) Sinn machen, nach dem Motto: Wir haben Mission initiiert und jetzt folgt ihr unseren Spuren in umgekehrter Richtung. 

c. Alternative Begriffe wurden vorgeschlagen. Der oft benutzte Begriff „Third World mission“ wirkt kolonial konnotiert. "Dritte Welt" wirkt wie abgehängt und deklassiert. Es ist jedoch umgekehrt. Die majority world des globalen Südens ist im Blick auf  Christentum und Mission gerade nicht drittklassig, sondern schon lange auf der Überholspur.
Harvey C. Kwiyani spricht von der: "new international mission". Missionarinnen und Missionare aus dem Süden verwenden oft die geographische Herkunft: latin mission; african mission; asian mission

d. Meine Ansicht: M.E. ist es besser von multidirectional mission zu sprechen. Hier geht es um eine Missionsbewegung, an der internationale Akteure, gleich welcher geografischen und kulturellen Herkunft, im globalen Setting beteiligt sind und von irgendwo nach überall unterwegs sind. Es wäre von daher auf begrifflicher Ebene logischer, analog zur multidirektionalen Bewegung in der Weltmission, von multidirectional mission zu reden. Reverse mission ist zu einseitig in der Begrifflichkeit im Sinne von "ehemalige südliche Empfängerländer werden zu Entsendeländern in Richtung Norden/Westen". Sie ist nur ein Teil dessen, was wir im globalen Kontext mit dem Begriff der multidirektionalen Mission abdecken können. Die Missionsgeschichte belegt, wie schon erwähnt, dass sich im Laufe der Zeit, unabhängig von dem vielzitierten Nord-Süd-Gefälle, Zentren gebildet haben, die vor Jahren selber Ziel missionarischer Arbeit waren, oder niederschwellig durch Migration entstanden sind. Jetzt geht von ihnen eine neue missionarische Iniative in eine andere Richtung aus. Kurz: Die russisch-orthodoxen Missionare, die in Japan unterwegs waren, gilt es ebenso zu würdigen, wie den brasilianischen Missionar, der heute in Italien arbeitet. Unter multidirectional mission verstehe ich einen theologisch unterlegten Ansatz "Von oben nach überall" (siehe Graphik oben). Gott ist missionarisch in Bewegung. Dabei nimmt er uns mit, ganz egal ob wir früher oder heute Sender oder Empfangende sind, ob wir zu den Reichen oder zu den Armen gehören.  

Gott ist farbenblind. Wenn wir ihm sagen, dass wir jetzt nicht mehr in Schwarz-Weiß denken und dass jetzt die gelben Koreaner zu den weißen Amerikanern gesandt werden, oder die schwarzen Afrikaner zu den roten Indios nach Südamerika gehen, dann fragt er immer nach, was wir denn eigentlich meinen.

Multidirektionale Mission verknüpft als dynamischer Ansatz die Idee der missio Dei mit den vielen (multi) horizontalen Missionsinitiativen im globalen Kontext, die gleichberechtigt kooperieren. Direktional wird hier im Sinne von Leitung und Richtung definiert, die von Gott inspiriert ist und an der alle Partner partizipieren. Das Konzept impliziert inspirierte Vielfalt (Gott und wir sind überall). Mission ist nicht menschengemacht und denkt nicht in den alten Kategorien europäisch, afrikanisch oder asiatisch. Wir lernen die alten Kategorien aufzugeben, "Ihr der Westen-Wir der Nichtwesten-Denken/ „Ihr für euch-Wir für uns“. Wir lernen es, uns gemeinsam, einander wertschätzend und uns gegenseitig unterstützend den globalen Herausforderungen der Weltmission zu stellen.

9. Multidirektionale Bewegungen in Europa.

In Großbritannien gibt es aufgrund der starken Präsenz afrikanischer Akteure bereits eine profilierte Debatte und mit "Missio Africanus" (lat. von Afrika ausgehende Mission) ein breites Netzwerk mit eigenem Masterprogramm, einer eigenen Zeitschrift und ein Forschungscluster sowie verschiedene Trainingsprogramme. Der lateinische Name suggeriert, wissenschaftlich auf Augenhöhe mit den internationalen Netzwerken und Akademien zu sein. Das Netzwerk versteht sich als „eine Lerngemeinschaft, die sich darauf konzentriert, das missionarische Potenzial afrikanischer und anderer nicht-westlicher Christen, die in Großbritannien leben, zu fördern“. Auch in Deutschland beginnt sich eine revers mission movement zu etablieren, die von Afrikanern und Asiaten dominiert wird.

In der Praxis beobachten wir dabei folgende Phänomene:

  • eigenständige Bewegung auf denominationeller Ebene mit starkem Fokus auf Migranten (aus der Community in diese Community)
  • wenig missionarische Bemühungen von Missionaren aus dem globalen Süden unter Deutschen.
  • wenig Kooperation zwischen nichtwestlichen communities und einheimischen Gemeinden. Das liegt u.a. an der meist starken pentekostalen Ausrichtung (Berührungsängste theologisch und liturgisch), an der Machtfrage zwischen den Akteuren (zwischen Vereinnahmung und Eigenständigkeit) sowie an der Kultur und Sprachbarriere (ethnische Sprachgruppen, unterschiedliche Denkweisen und Organisationsformen, wenig Integration)

Es gibt jedoch inzwischen auch viele Internationale Gemeinden, wo Christen aus vielen Nationen Gemeinde Jesu bilden.

10. Polyzentrik in der Theologiegeschichte.

Die frühen Theologenschulen in Rom, Jerusalem, Antiochien oder Alexandrien waren geprägt von Protagonisten aus unterschiedlichen Kulturen mit teilweise konkurrierenden philosophischen Ansichten. Orient und Okzident stritten um Einfluss und Deutungshoheit. Diese Polyzentrik hat zur Bildung von "Theologenschulen" geführt, zu theologischen Einflusszentren in unterschiedlichen geographischen Regionen. Ob man hier schon von einer Art Interkultureller Theologie sprechen kann, bleibt offen. Vielleicht wäre es sinnvoller von konfessionellen Theologien zu reden. Die Debatten drehten sich meist um die Frage nach dem richtigen Bekenntnis des christlichen Glaubens z.B. in der Frage der Trinität, der Christologie oder des Amtsverständnisses.

Heute existieren im Bereich der Interkulturellen Theologien aufklärerische, postmoderne, ethnophilosophische und diverse kontextuelle Ansätze. Interkulturelle Theologien entwickeln sich meist unabhängig voneinander. Aber es gibt auch gegenseitige Beeinflussungen wie zum Beispiel der Einfluss der lateinamerikanischen Befreiungstheologie auf die Black Theology in Südafrika. Beide sind von Martin Luther King in den USA inspiriert.

11. Risiken des multidirektionalen Phänomens.

Wir haben schon einige Chancen der multidirektionalen Mission aufgeführt. Es liegt in der Natur neuer Bewegungen, dass sie auch holprig verlaufen können. Auf einige Risiken und Gefahren, die wir im Auge behalten sollten, möchte ich zum Schluss zu sprechen kommen.

Bei der Begriffsklärung sind wir auf die Wörter Instabilität und Hyperlaxität gestoßen, die zur Multidirektionalität gehören. Es kann zu Bewegungen kommen, die uns ausrenken, weil wir bewährte kulturbedingte Gegebenheiten nicht genügend beachtet haben. Es kann auch zu strategischen Vorstößen kommen, die zwar gut sind, aber nicht zusammenführen, weil sie zu schnell ausgeführt werden. Und plötzlich verlieren wir den Rhythmus und die Dynamik beginnt, sich im Chaos zu verlieren. Was bedeutet das für die Missionsbewegung?

  • Instabil wird die Missionsbewegung, wenn einseitig auf Strategie und Expansion geschaut wird und die inhaltlichen Fragen ausgeklammert werden. Hier können wir von der Ökumenischen Bewegung lernen, wo Work & Life (gemeinsame Aktion) später durch Faith & Order (Theologie und Strukturfragen) ergänzt wurde. Sind wir bereit, liberale, nichtcharismatische und charismatische Theologie zusammenzudenken und gleichzeitig gemeinsam missionarisch aktiv zu werden, auch wenn sich Unterschiede auftun?
  • Es kann zu kulturellen Vorbehalten kommen. Europäer müssen sich erst daran gewöhnen, dass der Globale Süden an Einfluss gewonnen hat und durch die meist pentekostal-charismatische Ausrichtung massiv neue Trends setzt. Die "neuen Missionare" werden vielleicht aus Migrantenkreisen kommen. Es werden Menschen sein, die vielleicht nicht die gleiche Bildung haben wie wir. Aber es werden auch gut ausgebildete Unternehmer und Pastoren dabei sein, die es nicht verdienen, bevormundet zu werden. Lassen wir uns von einem Nigerianer sagen, dass wir uns im Westen in einem geistlichen Schlaf befinden? Bei einem Treffen von Global Connections sagte ein kenianischer Missionar in Großbritannien folgendes: "Wir könnten Beispiele für Situationen anführen, in denen aufgrund der jahrelangen Bevormundung und Dominanz einiger westlicher Missionare auf den Missionsfeldern die Beiträge der Menschen aus dem globalen Süden praktisch ignoriert wurden. Diejenigen von uns, die in das Vereinigte Königreich gekommen sind, können das Gleiche erleben".
  • Das Geben und Nehmen, das Senden und Empfangen wird erschwert. Werden asiatische und afrikanische Missionare ihre Gemeinden auf Dauer mobilisieren können, sie auch finanziell in ihrer Arbeit in Amerika und Europa zu unterstützen? Sind europäische Christen und Gemeinden bereit, afrikanische Missionare in Europa finanziell zu unterstützen?
  • Kann die Stärke des Globalen Südens zu Überheblichkeit führen, im Auftreten, in einem übertriebenen Selbstbewusstsein und in Form konfrontativer Methoden, die im Westen meist negativ rezipiert werden? Die Hybris kann sich auch da äußern, wo Missionare aus dem Globalen Süden oder demütig gewordene westliche Theologen zu stark das Narrativ der bisher empfundenen "Schwachheit, Machtlosigkeit und Marginalisierung" bemühen und damit betonen, dass die Missionsbewegung bisher von den "Mächtigen aus dem Westen" geprägt war und so das "westlich Elitäre" gegen das "südlich Kenotische" ausgespielt wird. Wir holen die Mission dahin zurück, wo sie hingehört, an den Rand, in die Niedrigkeit zu den einfachen Menschen, zur Gemeinde und nicht in die Hände der Profis, so ist zu lesen. Die strategische, mentale und materielle Dominanz westlicher Akteure ist ein Tatbestand. Differenzierung ist dennoch wichtig. Einseitige Betonungen sind nicht förderlich für den Geist der Zusammenarbeit. Es geht nicht darum, die Opferbereitschaft und Hingabe westlicher Pioniermissionare zu betonen. Doch viele Missionare gehörten in ihren Heimatkirchen zum Rand, zu den Verrückten, die es nicht lassen wollten, die um Unterstützung rangen und sich anhören mussten, dass sie nicht die Politik ihrer Heimatländer unterstützen und sich stattdessen auf die Seite der einheimischen Bevölkerung ihrer Gastländer geschlagen haben. Ich hatte persönlich nie das Gefühl, dass Weltmission in den Gemeinden als das zentrale Thema angesehen wird. Weltmission ist in den meisten Kirchen ein Randthema. Auch das ist Machtlosigkeit, Schwachheit und Entleerung (Kenosis). Gast und Fremder zu sein und missionarische Arbeit im Minderheitenkontext implizieren immer ein Momentum der Schwachheit, das nicht durch Material und Strategien ausgemerzt werden kann. Von dem pauschalen Klischee, "westliche Mission" sei per se "mächtig",  können wir uns getrost verabschieden. Als Missionarinnen und Missionare, ganz gleich aus welcher Richtung wir kommen, müssen wir lernen, dass wir nur in der Konvivenz, im Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung und deren Multiplikatoren "stark" und erfolgreich sein können.
  • Kulturschockerfahrungen und Anpassungsprozesse werden niemandem erspart bleiben. Wie werden sich die Repräsentanten aus der majority world verhalten, wenn sie sich als minority im säkularisierten und postchristlichen Westen wiederfinden? Werden sie es lernen, die europäischen Kulturen zu lieben, ihren Kleidungsstil, ihre kulturell gewachsenen Prioritäten und Werte, die Essgewohnheiten, obwohl die westlichen Kulturen in der Vergangenheit die Ursache für zivilisatorische Hybris waren? Werden sie es schaffen europäische Denkschemata mit ihrer afrikanischen u.a. Version des Christentums zu verbinden (z.B. pastoraltherapeutische Einsichten in der Seelsorge und power healing). Auch die Modelle des vorwiegend pentekostalen afrikanischen Christentums können trotz aller Lebendigkeit nicht einfach "geklont" und in europäische Erde eingepflanzt haben. Der mühevolle Prozess der Kontextualisierung bleibt niemandem erspart. Auch Missionare aus dem globalen Süden können eine von der eigenen Spiritualität, Ethik und Theologie geformte "imperiale Mentalität" ausstrahlen, ohne sich dessen bewusst zu sein.
  • Der gemeinsame Rhythmus kann gestört werden, wenn sich herausstellt, dass in ethischen und theologischen Fragen das Christentum der majority world eher konservativ aufgestellt ist und in Konkurrenz tritt zum liberaleren Christentum des Westens. Wie werden sich Migrationsgemeinden und Internationale Gemeinden verhalten, wenn sich in Landeskirchen und Freikirchen z.B. der tolerante Umgang mit Homosexuellen oder der divers aufgestellte Postevangelikalismus im Allgemeinen mehr Einfluss gewinnen wird? Beide Kategorien, sowohl der klassische Evangelikalismus als auch der Postevangelikalismus, sind westliche Wortschöpfungen, die einengen. "Die Evangelikalen" wollten seit den 1960er Jahren nicht so liberal sein wie die Ökumeniker. "Die Postevangelikalen" wollen nicht so sein wie die Evangelikalen, die sich theologisch und ethisch zu eng positionieren. Für beide Richtungen gibt es evtl. einige Standards, jedoch kein einheitliches Bild. Bei der postevangelikalistischen Strömung handelt es sich aber nicht nur um eine Gegenkultur, sondern um die aufrichtige Suche nach Positionierungen in einer postmodernen Welt, die zunehmend von Desorientierung, Überangebot und apokalyptischem Feeling durchdrungen ist. Diese ehrlichen Fragen dürfen nicht einfach mit Biblizismus und mit einer "Wahrheit um der Wahrheit willen-Theologie" abgefertigt werden. Ich bin gespannt, wie sich interkulturelle Gemeinden und reverse misionaries im Wirrwarr westlicher Fragestellungen positionieren werden. Postevangelikalismus ist weltweit betrachtet jedoch immer noch ein westliches Nischenphänomen. Die Mehrheit der evangelischen Christen der majority world ist evangelikal - von konservativ bis radikal evangelikal. Sie sind von der Lausanner und der pentekostal-charismatischen Bewegung geprägt. Sie sind wohl eher daran gewöhnt, dass ein starker Leiter Meinungen und Lebensstile vorgibt und daran interessiert, zu sehen, wo die Kraft Gottes erlebbar ist. Sie interessiert weniger die minimalistisch klingenden Fragen "Was soll ich tun? Was darf ich alles noch glauben, damit ich mir das erlauben kann, was noch einigermaßen akzeptabel ist und mich und andere nicht überfordert?"
  • Multidirektionalität und Globalisierung bringen es mit sich, dass viele neue Herausforderungen in einem relativ kurzen Zeitpunkt auf den Tischen der Missionsstrategen liegen. Was passiert, wenn die Strategien dem Rhythmus der Bewegung nicht folgen können bzw. diese zu schnell und unüberlegt verändert werden (Hyperlaxität)?  Was passiert, wenn Missionsgesellschaften sich zeitnah in unterschiedliche Arbeitsbereiche einklinken, die für sie neu sind und über die klassischen Betätigungsfelder hinausgehen?
  • Es kann zu kulturbedingten Clashs kommen. Olofinjana hat darauf aufmerksam gemacht, dass die kollektivistische Kultur Afrikas der Religion eine ganz andere Rolle beimisst als Europäer das in ihrer Mehrheit tun. Obwohl Spiritualität wieder postmodern geworden ist, bedeutet das nicht, dass man sie auch in der Öffentlichkeit lebt. Afrikaner tun das. Wird die kollektivistische und öffentliche Ausrichtung des Religiösen von Europäern mitvollzogen? Oder wird dies als kulturelle Einmischung interpretiert, die dann zur Konfrontation führt.
  • Integration bedeutet Erneuerung. Wird die Integration der Gesandten des globalen Christentums gelingen?  Wird es gelingen, den kirchlichen Parallelismus zu überwinden und gemeinsam ein erneuertes Christentum zu kreiieren, angefangen von der Erneuerung der Theologie als Ergebnis gemeinsame gestalteter Lernprozesse, der Liturgie bis hin zu erneuerten internationalisierten bzw. globalisierten Leitungsstrukturen?  

Die Multidirektionalität ist eine Tatsache. Gott wird sie nutzen. "Wo sich Interaktion verdichtet, bilden sich Zentren, wo sie ausdünnt, entstehen Grenzen", sagt Birgit Emich, Professorin für Mittelalterliche Geschichte. Die spirituelle Ausdünnung des westlichen Christentums entpuppt sich so als eine neue Grenze, die von Missionaren aus dem Globalen Süden überwunden wird. Diese Anliegen hat Lesslie Newbegin, anglikanischer Bischof und Missionar in Indien, schon in den 1970er Jahren vertreten, als er darauf aufmerksam machte, dass die europäische Aufklärung und die scheinbare Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse an ihre Grenzen stoßen werden. Der säkulare und postchristliche Pluralismus kann nur durch das Evangelium entlarvt und überwunden werden. Vielleicht nutzt Gott die multidirektionale Bewegung in der Weltmission, um genau das zu tun. Wir werden dabei neu motiviert, Weltmission als Aufgabe aller Christen wahrzunehmen, ganz gleich woher sie kommen. Wir hoffen, dass dabei unnötige Ausrenkungen und Verzerrungen ausbleiben. Ich wünsche mir, dass wir die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Missionarinnen und Missionaren anfeuern, ihnen Erfolge gönnen und uns von ihnen inspirieren lassen.

Literatur:

Bangura, Joseph Bosco. 2020. Reverse Mission? Missio Dei and the Spread of African Pentecostalism in the West. Brill
Koschorke, Klaus. 2013. Polyzentrische Strukturen der globalen Christentumsgeschichte
Kwiyani, Harvey C. 2014. Sent Forth: African Missionary Work in the West. Orbis
Olofinjana, Israel. 2010. Reverse in ministry and missions: Africans in the dark continent of Europe; an historical study of African churches in Europe. Central Milton Keynes Author House
Olofinjana, Israel. 2019. Reverse Mission: African Presence and Mission within Baptists Together in the United Kingdom. Journal of European Baptist Studies, Bd. 19/2.100-116
Paas, Stephan. 2015. Mission from Anywhere to Europe. Brill
Wright, Christopher J. H., 2007, An Upside-Down World’ in Christianity Today (Jan. 2007)

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