Gehört der Islam zu Deutschland ? - Zugehörigkeit und kulturelle Identität (2)

3. Was ist mit Zugehörigkeit und kultureller Identität gemeint?

Der Satz “Muslime gehören zu Deutschland“ sagt nichts über die Qualität der Zugehörigkeit aus. Sind unsere muslimischen Mitbürger integriert, angepasst oder zwangsassimiliert oder leben sie segregativ und ghettoisiert? Welche Kriterien sind hilfreich, um die qualitative Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft zu messen?
Die von der Deutschen Islamkonferenz 2013 in Auftrag gegebene und vom BaMF veröffentlichte Untersuchung (Islamisches Gemeindeleben in Deutschland) zum Stand der Integration von Muslimen und muslimischen Religionsbediensteten lässt ...
... eine undifferenzierte Zustimmung zu dem anfangs erwähnten Satz nicht zu. So haben z.B. knapp 38 % der Imame keine deutsche Staatsbürgerschaft oder langfristiges Bleiberecht. Wie könnte von ihnen als Meinungsmacher ein Schub für Integration und kulturelle Identifikation ausgehen? Von den ca. 4 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen haben nur ca. 1,8 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn wir die Staatsbürgerschaft als ein Zeichen qualitativer Zugehörigkeit zu einem Staatsgebiet, dessen System und Kultur betrachten, dann sagt diese Zahl Einiges aus. Im Übrigen hat Wulf in seiner Rede hervorgehoben, dass ein Pass nicht ausreicht, um Zugehörigkeit zu definieren. 
Darüber hinaus klingt es unausgewogen, wenn Christentum, Judentum und wie selbstverständlich auch der Islam in gleichem Maße als (mittlerweile) zu Deutschland gehörig dargestellt werden. Dies ist philosophisch, kulturell und geschichtlich unpräzise, weil m.E. zwischen quantitativer Präsenz und qualitativer Prägung unterschieden werden muss. 
Wulf sagt, dass es nicht darauf ankommt, wo jemand herkommt, sondern wo wir als Volk gemeinsam hinwollen. Auch das ist illusorisch und unpräzise, denn niemand kann seine kultur- und geistesgeschichtliche sowie religiöse Prägung um der Zukunft willen gänzlich hinter sich lassen. Wer nicht weiß woher er kommt, verliert die Orientierung für das, was er für das Wohin, die gemeinsame Zukunftsgestaltung einbringen möchte. Die Herkunft vernachlässigen wäre im Übrigen auch destruktiv, denn die Lektion aus der Vergangenheit kann nur im kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte erlernt werden. Das gilt für Muslime genauso wie für die völkisch orientierten Deutschen, die bei deutscher Kultur einseitig an Germanen, deutsche Kaiser, römisches Recht und humanistische Dichter und Philosophen denken. 
Immerhin intendiert die Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland, Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, z.B. dass Muslime ein legales Aufenthaltsrecht haben, sich an die Gesetze des Landes halten und dass es einen „gemeinsamen Weg“ und Einigkeit über das gemeinsame Ziel geben müsse. Das alles kann rhetorisch festgestellt werden. Jedoch müssen sich insbesondere die beiden letztgenannten Kriterien empirisch als praktikabel und gewollt erweisen. 
Die Aussage von Wulf ist von ihrem Kontext her eine politische Aussage, die signalisieren will: Ihr, die in Deutschland lebenden Muslime, seid uns willkommen; wir wollen Migranten mit muslimischem Hintergrund nicht ausschließen, sondern integrieren (bestätigend, erklärend); Politik und Gesellschaft fördern die Integration und die Vertreter der Islamverbände setzen sich zum Ziel, einen Islam zu gestalten, der kompatibel ist mit den Werten, die uns prägen (appellierend).

Mit Zugehörigkeit verbinden wir Emotionen, gegenseitige Verbundenheit und Willen. Sie kann daher nicht im Sinne der political correctness verordnet oder einseitig gewollt werden. Zu sagen, du gehörst dazu, ohne die betreffende Person zu fragen, ob sie das kann, will und selber so empfindet, bringt wenig. Die kulturelle Verortung (also: der Islam gehört zu Deutschland) kann erzwungen (Zwangsassimilierung) werden und wäre somit problematisch. Kulturelle Zugehörigkeit und Identität können und müssen sich entwickeln - und dazu benötigen wir Zeit.  

Zugehörigkeit bezeichnet ein Gefühl des Aufgehoben Seins und der Geborgenheit. Sie impliziert Identität im Sinne der erklärten Bereitschaft, mit den Werten einer vorhandenen Gesellschaft mehrheitlich übereinzustimmen. Der Begriff beinhaltet aber gleichzeitig den Aspekt der Grenzziehung und des Ausschlusses, nämlich dann, wenn die angesprochene Übereinstimmung oder die Geborgenheit nicht vorhanden sind, oder das Fremde, von beiden Seiten, als bedrohlich oder inkompatibel empfunden wird.

Auch die kulturellen Identitäten können nicht statisch bestimmt werden. Identität besagt, dass wir gleiche oder ähnliche Eigenschaften haben bzw. zu einer willentlichen Übereinstimmung gekommen sind (sich identifizieren).
Die Identität einer Person oder einer Gesellschaft verändert sich langsam und prozesshaft - bewusst und manchmal unbewusst, manchmal gesteuert und meist ganz automatisch. Da helfen Parteitagsbeschlüsse und verbale Zementierungen einer deutschen Leitkultur wenig. Das gilt im Übrigen auch für die oft zitierte "Willkommenskultur" (sozial kultiviert sein). Auch sie kann nicht von sozial Engagierten oder von Nächstenliebe getriebenen Leuten anderen aufoktroyiert werden. Entweder wir sind "willkommenskultiviert" bzw. lernen es zu werden, oder wir tun es nicht. Das gilt für alle an der kulturellen Begegnung Beteiligten. Es bringt wenig, jemanden zu umarmen, der nicht umarmt werden will, oder die zu tolerieren, die uns nicht tolerieren. Kulturelle Veränderungsprozesse brauchen Zeit, weil die Begegnung mit dem Fremden, "den Anderen" zunächst einmal Unsicherheit und Ängste hervorrufen. Die Zeit hilft zu klären, ob wir zueinander finden oder nicht.

Identität hat also eine konstruktiv dynamische Seite, die in die Zukunft weist. Die kulturelle Identität der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg verändert, wozu auch ein ambivalenter Umgang mit Nation, "deutschem Wesen", Volk und Heimat gehört, aber auch die globale Öffnung und die Bereitschaft zur Bereicherung durch andere. Um es mit Martin Buber zusagen: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung." Die Identität des Ich erwächst in der Begegnung mit dem Du. Auch die kulturelle Identität entwickelt sich weiter, sie wird bereichert in der Begegnung mit anderen Kulturen. Durch diesen Tatbestand wird auch der von Samuel Huntingon postulierte Kulturkampf (Clash of cultures, 1996) das Wasser abgegraben. Wer Kulturräume festlegt, sie einzäunt oder einmauert und sie mit populistischer Propaganda festzurrt, der beraubt sie der Möglichkeit durch Begegnung bereichert und korrigiert zu werden. Vorurteile und Ausgrenzungen sind so vorprogrammiert. Der Kampf beginnt. Und das ist auch bei den national völkischen Bewegungen in Deutschland der Fall. Sie definieren kulturelle Identität vorwiegend statisch und rückwärtsgewandt – wie z.B. deutsche Sprache der Denker und Dichter, römisches Recht, ostdeutsche Idylle und christliche Tradition. Viktor Orbán hat folgenden Satz gesagt: "Niemand kann verlangen, dass unser Land sich ändert!" Dieser Satz atmet die Angst vor der notwendigen Veränderung. Es bringt zum Ausdruck, dass in der Abschottung der Fortschritt der eigenen Kultur zu liegen scheint. Das ist aber ein Trugschluss, der gegen jegliche Erfahrung spricht. Kulturen entwickeln sich nicht durch rückwärtsgewandte Allüren, sondern in der vorwärtsgewandten Begegnung, die Kritik, Korrektur, Neuorientierung und das Festhalten am Bewährten gleichermaßen ermöglicht. 

Dieses Statement ist kein Plädoyer für eine multikulturelle Inflation. Aber wir können die aus ca. 100 verschiedenen Ländern kommenden Menschen, die in Deutschland leben, nicht einfach wegbeamen oder ihnen mit einer misstrauischen "Ausländer-raus-Mentalität" begegnen. Ihre Anwesenheit ist auch eine Chance für Begegnung und Bereicherung - das gilt auch für Menschen mit muslimischem Hintergrund.

Wulfs These vom gemeinsamen künftigen Weg aller in Deutschland lebenden Menschen wird an der Flexibilität des Kulturbegriffs und der Wandlungsfähigkeit der Menschen gemessen werden müssen.

Integration als Strategie der Assimilierung und Selbstverpflichtung für die, die dazu gehören wollen, kann durch flankierende Maßnahmen gefördert werden. Sprachkurse können verordnet werden, kulturelle Identitäten jedoch nicht.

Johanna Pfaff-Czarnecka, Sozialanthropologin aus Bielefeld, definiert wie folgt: „Zugehörigkeit ist „eine emotionsgeladene soziale Verortung, die durch das Wechselspiel (1) der Wahrnehmungen und der Performanz der Gemeinsamkeit, (2) der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und (3) der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen entsteht. Es handelt sich um eine zentrale und komplexe Dimension menschlicher Existenz, die in der Alltagswelt einfach gefühlt und zugleich nachhaltig verunsichert, herausgefordert und leidenschaftlich verteidigt wird“. (in: Pfaff-Czarnecka, Johanna. 2012. Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 12)

In der Konsequenz stellen sich folgende Fragen:
  • Stimmt die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei Muslimen und deutscher Bevölkerung weitgehend überein?
  • Arbeiten alle gemeinsam an der Verbesserung der gemeinsamen Lebenswelt?
  • Kennen sich Muslime und andere Deutsche genügend, um von einer Beziehung sprechen zu können?
  • Sind wirtschaftliche und private Aktivitäten so gestaltet, dass der Wunsch zum Verbleib ablesbar ist?
  • Stimmen Ideen und Werte soweit überein, dass sie mit vorhandenen Ideen und Werten kompatibel sind?
Um den Grad der Zugehörigkeit zu ermitteln, unterscheiden Meyer und Allen drei unterschiedliche Ebenen (nach Meyer, John P. und Natalie J. Allen. 1997. Commitment in the Workplace. London, New Delhi: Thousand Oaks):
  • affektives Commitment (Selbstverpflichtung): Personen signalisieren im täglichen Zusammenleben Übereinstimmung mit einer Gemeinschaft, beruhend auf positiven Erfahrungen.
  • abwägendes Commitment: Personen wägen ab, ob ihnen das Leben in der betreffenden Gemeinschaft mehr Vorteile oder mehr Nachteile bringt (Kosten-Nutzen-Rechnung). Wenn sie der Meinung sind, dass das Ausscheiden mehr Nachteile bringt, dann bleiben sie.
  • normatives Commitment: moralische Verpflichtung der Mitglieder einer Gesellschaft; Überzeugt Sein von den Werten der Gruppe und der Treue zu ihr
Zwischenrufe
Der Vorsitzende der Deutschen Muslimliga zeigt Fakten auf, die die zunehmende Zugehörigkeit und und Integration von Muslimen in Deutschland aufzeigen:
  • Die Zahl der Muslime, die die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und erhalten nimmt zu.
  • Die große Mehrheit der Muslime und der Islamverbände heben das Grundgesetz als einer der besten Verfassungen der Welt hervor.
  • Die Verhandlungen zur Unterzeichnung eines Staatsvertrages zwischen Regierung und dem Zentralrat der Muslime sind auf einem guten Weg.
  • Moscheen und Verbände leisten einen positiven Beitrag zur Integration von Migranten durch Sprachkurse und soziales Engagement. 
  • In Deutschland gibt es ca. 65.000 von Türken geleitete Unternehmen, die Arbeitsplätze für Deutsche und Türken schaffen und ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlstand leisten.
Die von der dpa in Auftrag gegebene und von YouGov durch geführte Umfrage in Deutschland besagt andererseits folgendes:
  • 62 % der Deutschen haben keine privaten Kontakte mit Muslimen. Die meisten Kontakte entstehen am Arbeitsplatz und in der Schule.
  • 50 % der 18-24-jährigen Deutsche haben Kontakte zu Muslimen 
  • 52 % der Deutschen haben kaum oder wenig Ahnung vom Islam 
  • 84 % waren noch nie in einer Moschee 
  • 68 % der befragten Muslime kennen sich gut oder sehr gut mit dem Christentum aus 
  • 60 % der Deutschen geben an « zu merken », dass die Zahl der Muslime zunimmt
  • 87 % sind noch nie einem radikalen Muslim begegnet 
  • Nur 2% Muslime lebten vor der Flüchtlingskrise im Osten Deutschlands.
Die von Pfaff-Czarnecka und Meyer/Allen vorgeschlagenen Kriterien gelten auch für Personen, die in der deutschen Kultur aufgewachsen sind. Jemand kann ein Deutscher sein, und zeitweise oder grundsätzlich einige von der Mehrheit als normativ eingestuften Werte oder typisch deutsche Eigenschaften kritisch ansehen. Eine Person kann sogar mehrere kulturelle Identitäten (bi- oder multikulturell) oder eine Mischidentität (third-culture) besitzen. Zugehörigkeit kann also nicht statisch, sondern sollte dynamisch beschrieben werden. Diese Haltung ermöglicht es, an typischen traditionellen Eigenarten festzuhalten und sich neue, der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechenden Eigenarten anzueignen. Deutsche, die einige Jahre im Ausland gelebt haben und wieder in ihr Heimatland zurückkehren, empfinden möglicherweise: Deutschland ist mir fremd geworden. Die Zugehörigkeit müsste in diesem Fall wieder „erworben“ werden.

Die Zugehörigkeit einer (philosophischen, politischen oder religiösen) Bewegung wird m.E. bestimmt durch …
  • historischen Ursprung und Prägung (empirisch): Die Zugehörigkeit zu einer Kultur und Gesellschaft wird m.E. durch die Tatsache bestimmt, dass eine Bewegung in der besagten Kultur ihre Wurzeln hat bzw. im Laufe der Geschichte eine nachhaltige Prägung hinterlässt. Mit der Metapher „Wurzel“ ist die ursprüngliche Zugehörigkeit gemeint, aber auch ein nachträgliches Wurzelschlagen in einer zunächst fremden Umgebung, was im Übrigen auch für das Christentum gilt. 
  • gesellschaftliche Akzeptanz (kulturell): Eine Bewegung wird von einer Gesellschaft als dazugehörig akzeptiert (objektiv). Andererseits ist es aber genauso bedeutsam, dass die ursprüngliche fremde Bewegung die vorhandene Gesellschaft akzeptiert (subjektiv). Gesellschaftliche Akzeptanz kann nicht auf dem Weg demokratischer Entscheidungsfindung erwirkt oder abgelehnt werden. Sie muss ganz einfach im Prozess des Zusammenlebens entstehen. Dazu gehören eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Rechtsgrundlage und interaktive Begegnungsflächen (Nachbarschaft, Arbeitswelt, Schule, Parteien usw.)
  • innere Verbundenheit (emotional): Zugehörigkeit setzt voraus, dass die Menschen, die sich als zugehörig bezeichnen, eine innere Verbundenheit mit den prägenden historisch gewachsenen Werten einer Kultur und ihrer Gesellschaft entwickelt haben. 
Der Sozialismus z.B. hat seine Wurzeln in Deutschland, er hat sich als politische Bewegung etabliert. Auch wenn nur 10 % „Die Linken“ wählen würden, hat das sozialistische Gedankengut die deutsche Politkultur nachhaltig geprägt. Er gehört zu Deutschland, auch wenn der Kommunismus in seiner Reinform und mit seinem totalitären Anspruch für die freiheitliche Verfassung der aktuellen Bundesrepublik als nicht kompatibel eingestuft wird. 

Fazit:
Um Zugehörigkeit zu definieren, benötigt es mehr als eine bestimmte Quantität von Menschen, die einer Gesellschaft angehören. Die Logik der Argumentation vorausgesetzt, kann gefolgert werden: Die Tatsache, dass 4 Millionen Muslime in Deutschland leben und arbeiten, reicht noch nicht aus zu sagen, der Islam – als religiös politische Bewegung – gehöre zu Deutschland. Statistiken reichen nicht. Da muss mehr kommen.

(Teil 3 folgt) was die Geschichte zur Präsenz von Muslimen in Deutschland sagt

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