Konflikte und der Geist von Kurukan Fuga

Konflikte sind in Mali an der Tagesordnung und nicht nur dort. Die prekäre Sicherheitslage wurde ausgelöst durch islamistischen Terror, kriminelle Trittbrettfahrer, Drogenhändler und nicht zuletzt durch eine schwache Regierung sowie im Zentrum und Norden des Landes unzureichend agierende Administration. In diesem multikomplexen Konflikt stehen sich Parteien und Interessensgruppen meist unversöhnlich gegenüber. Der Staat mit seinen Sicherheitsorganen bzw. die zivilgesellschaftlich organisierten Landwehren bekommen die Lage nicht in den Griff. Wenn Konflikte mit Waffen ausgetragen werden und schon ein erheblicher Schaden an Leib und Leben und großes Misstrauen entstanden ist, dann wird es umso schwerer eine Konfliktlösung herabeizuführen. Das in westlichen Kulturen seit den 1960er und 1970er Jahren hinreichend bekannte Konzept der Mediation besagt, dass durch „ein strukturiertes Verfahren Parteien mit Hilfe eines Mediators (ein neutraler Dritter) oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben.“
Es ergeben sich aus dieser Definition drei Fragen:
Wo sind die neutralen Dritten?
Werden verfeindete Gruppen sich jemals freiwillig an einen Tisch setzen ?
Wird die Kompromissbereitschaft ausreichen, um Einvernehmen zu erzielen ?

Ich habe mich auf die Suche gemacht und wollte herausfinden, wie im Laufe der Geschichte in der malischen Kultur, geprägt von einer traditionellen kulturellen Heterogenität, Konflikte gelöst wurden. Noch bevor der Islam mit Hilfe der Scharia Gesetze schuf, z.B. während der ersten islamischen Invasion unter den Almoraviden im 10./11. Jahrhundert und in der Zeit der Dina (islamisches Gottesreich) von Massina im 19. Jahrhundert und bevor danach dann im Rahmen der europäischen Kolonialisierung juristische Rahmenbedingungen oktroyiert wurden, gab es im antiken und mittelalterlichen Mali Wege der Konfliktlösung. Es ging dabei vornehmlich um präventive Maßnahmen. Bevor es also zu einem offiziellen Gerichtsverfahren oder gar zu Waffengängen kam, sollten auf vorgerichtlichen Wegen Lösungen herbeigeführt werden.

Konflikte waren in Mali aufgrund der ethnischen Pluralität, der wechselnden politischen und soziokulturellen Einflüsse vorprogrammiert. Diese sind bis heute noch latent vorhanden. Um den Frieden dauerhaft zu sichern und Konflikten vorzubeugen, haben die ersten Gründer des Reiches von Mali (1236) materielle und immaterielle Mittel für den Frieden, aber auch für die Stabilität des Reiches festgelegt, die zum juristischen Erbe Malis gehören. 

Die Charta von Kurukan Fuga aus dem Jahr 1236 und ihre Auswirkungen
Die damalige Gesellschaft war im 13. Jahrhundert eingeteilt in verschiedene Klassen: Krieger (Armee): 16 militärische Einheiten: "Ton ta djon" (Köcherträger), vier "Mansa si" Volksgruppen (Fürstenstämme), fünf "Mori Kanda" oder Klassen von Marabouts (religiöse muslimische Anführer), vier "Nyamakala" (Zünfte; Berufsklassen). Die Gesellschaft ist in Altersklassen unterteilt. An der Spitze jeder Klasse wird ein Anführer gewählt. Zu einer Altersklasse gehören alle Personen (Männer oder Frauen), die innerhalb von drei aufeinanderfolgenden Jahren geboren wurden. Die "Kangbé" (eine Klasse zwischen Jung und Alt) müssen bei wichtigen Entscheidungen, die die Gesellschaft betreffen, mitwirken. Die Frauen waren neben ihren häuslichen Verpflichtungen grundsätzlich auf allen Ebenen der Regierung des Landes vertreten. Sklaven durften nicht misshandelt werden. Fremde mussten mit Respekt und Gastfreundschaft behandelt werden. Jemand, der im Auftrag eines Freundes oder Feindes kommissarisch unterwegs ist, darf nicht angerührt oder misshandelt werden. Er genießt diplomatische Immunität. Der Respekt vor den Älteren, Demut, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit waren Tugenden, die das Zusammenleben prägten. Die Werte, die mit dem Dialog, der Toleranz, der Gastfreundschaft und der Gewaltlosigkeit verbunden sind, bilden die Grundlage der malischen Traditionen. Alle wesentlichen Gruppen der Gesellschaft waren in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die Unterprivilegierten, wie Sklaven und Fremde, wurden in den Verhaltenskodex einbezogen. Auf diese Weise wurden sowohl Zusammengehörigkeit und Verantwortung gefördert als auch Konfliktprävention betrieben. Die Versammlungen der Familienoberhäupter unter dem Palaverbaum, die vom Dorfvorsteher geleitet werden, fungieren auch heute noch oft als lokales Gericht, dessen Entscheidungen oft mehr Beachtung finden als die der Verwaltungs- und Justizbehörden. Das liegt daran, dass diese Entscheidungen von den Dorfbewohnern selbst getroffen werden. Anfang der 1990er Jahren waren wir als Familie in ein solches lokales Gerichtsverfahren involviert. Eine größere Summe Geld, das für ein Projekt im Dorf bestimmt war, wurde aus unserem Haus während unserer Abwesenheit entwendet. Wir haben damals nicht die Polizei eingeschaltet, sondern uns an den Dorfältesten und seine Berater (Dorfkomitee) gewandt. Wir wurden vorgeladen und durften den Sachverhalt aus unserer Sicht schildern. Das Treffen fand an zentraler Stelle, neben der Moschee unter einem von schweren Baumstämmen gestützen Strohdach statt. Anschließend tagten die Dorfältesten weiter. Die Beratungen waren erfolgreich, da zwei Tage später Zweidrittel des verschwundenen Geldes wieder auftauchten - ordentlich gebündelt, im Garten unseres Hauses.

Welche Arten von Konflikten beobachten wir in der malischen Geschichte und Gesellschaft?

  • Es gab Expansionskriege, Verteidigungskriege oder Befreiungskriege – und das reichlich.
  • Die Razzien (arab. Sklavenhandel z.B.) und räuberischen Kriege in den nördlichen Regionen Malis, die von den Tuareg-Stämmen geführt wurden, sind Fälle, mit denen sich die aufeinanderfolgenden Imperien und die postkolonialen Regierungen befasst haben.
  • Innerfamiliäre Konflikte (fadenkélé), die durch unversöhnliche Gegensätze zwischen den Kindern desselben Vaters gekennzeichnet sind.
  • Konflikte zwischen Einzelpersonen und Dörfern
  • Rechtsstreitigkeiten, die Landstreitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Hirten und Sesshaften (Bauern) über das Weiden von Tieren auf den Feldern betreffen,
  • Erbschafts- und Ehestreitigkeiten, die in den ländlichen Gebieten am weitesten verbreitet sind.
  • Konflikte in urbanen Zentren politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art

Um diese Konflikte einzugrenzen, wurden Mittel oder Lösungen gefunden, die den Normen und Werten entsprechen, die der malischen Gesellschaft zugrunde liegen. Sie werden sowohl bei Streitigkeiten zwischen Gemeinschaften als auch zwischen Einzelpersonen eingesetzt.
Heute treten zunehmen Konflikte hinzu, die aufgrund der globalen Gemengelage fremdgesteuert sind (Konflikt zwischen radikalen islamischen Gruppen, dem malischen Staat und UN-Friedensmissionen)

Wie sehen traditionelle Lösungswege aus?
Die Tradition hat sich mehr auf die Prävention als auf die Lösung offener Konflikte konzentriert, wie ein Sprichwort der Bambara (die am weitesten verbreitete Landessprache in Mali) besagt: "Bana kunben ka fisa ni bana fura kè": Vorbeugen ist besser als heilen. Die Suche nach Frieden basierte daher auf folgenden Prinzipien: Man versuchte, Konflikte durch soziale Regulierungskanäle, Mediation oder Kommunikation zu verhindern. Der Rückgriff auf den Krieg war die letzte Option, um den Konflikt zu beenden.
Die malische Tradition verfolgt eher einen dynamischen, kommunitären und humanistischen Ansatz, der auf Solidarität beruht. Das Schlüsselwort bei Krisenvorbeugung und Konfliktbewältigung lautete „kélenya“ (Einheit, Vereinigung, Versammlung). Dieses malische Konzept spiegelt die Regeln wider, die es dem Menschen ermöglichen, seinen Nächsten wie sich selbst zu betrachten. "Kelenya" ist ein Grundprinzip, das unter den erschwerten Bedingungen des Sahel das gemeinsame Überleben ermöglicht.
Es unterscheidet sich wesentlich vom westlichen Konzept von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Diese Trilogie hat sich in den Französischen Revolutionen von 1789 und 1848 herausgebildet und wurde später Grundlage der Französischen Republik und der Menschenrechtserklärung. Das westliche Konzept beruht auf individuellen Freiheitsrechten und der Gleichheit des Individuums vor dem Gesetz. Im malischen Kontext steht nicht das Individuum im Mittelpunkt, sondern die kollektive Solidarität. Kelenya ist daher als Grundsatz geeignet, aus dem man Mechanismen zur Konfliktprävention und -lösung ableiten kann, die je nach Region und ethnischer Dominanz unterschiedlich ausgeprägt waren.

Anwendungsbereiche:

  • In den Beziehungen innerhalb eines Dorfes oder eines Stadtteils einer Großstadt: Der Dorf- oder Stadtteilvorsteher ist die moralische Instanz, die über alle Streitigkeiten und Konflikte entscheidet, die innerhalb seiner territorialen Grenzen auftreten. Hierfür wird er von seinem Rat unterstützt. Nur wenn die Bevölkerung nicht zufrieden ist, wendet sie sich an die Gerichte. Die besagten Streitigkeiten und Konflikte können aller Art sein (Ehesachen, Erbteilung, Grundbesitz, Einforderung von Forderungen, Diebstahl, Streitigkeiten ... usw.).
  • Schließen von Bündnissen, um Konflikten vorzubeugen: Die malischen Gesellschaften sind von Grund auf klanorientiert. Für die Parteien stellen Bündnisse die Hoffnung dar, Konflikten vorzubeugen und das soziale Einvernehmen zu erhalten; sie sind eine Art Sozialvertrag für den Frieden. Die Ehe zwischen Clans oder Entitäten und die Polygamie bilden Blutsbande, die das Risiko von Konflikten verringern.
  • Humor als Mediationsmechanismus: Synankouya" oder "Cousinage à plaisanterie", "alliance à plaisanterie" oder sogar "fraternité à plaisanterie vexatoire" (Bruderschaft mit beleidigendem Witz). Hier werden Witze oder Späße zwischen Verbündeten verwendet, die sehr oft beleidigend und lächerlich sind und die Beziehungen entkrampfen sollen. Die Methode gibt dem Verbündeten alle Befugnisse, dem anderen Verbündeten unverblümt und schonungslos alles zu sagen, was er für richtig hält. Im Konfliktfall kann der "Scherzbruder" den Pakt, der ihn mit seinem Bruder verbindet, nutzen, um ihn zur Vernunft zu bringen und zu befrieden. Selbst in der modernen Zeit, in den letzten sogenannten "Tuareg"-Konflikten im Norden Malis, haben die politischen Behörden nicht gezögert, sie anzuwenden, um die Tuareg und ihre Songhrai-Scherzbrüder an den Verhandlungstisch zu bringen, und das mit Erfolg, nebenbei bemerkt.
  • Sportliche und künstlerische Wettkämpfe: Musikwettbewerbe, traditionelle Kämpfe sowie Pferde- und Kamelrennen bringen die Gemeinschaften einander näher und führen zu Bündnissen.

Die Vermittlung
Sie ist den sogenannten "N'gnama kala" (Griots, Schmiede, Schuster usw.) und den Ältesten vorbehalten, da wir uns in geronkratischen Gesellschaften (Herrschaft der Alten) befinden, in denen die Ältesten Immunität genießen und in allen Situationen gehört werden, was in Mali immer noch der Fall ist. Diese Kasten haben auch traditionell Immunität in Friedens- oder Konfliktzeiten, um mit oder zwischen Konfliktgemeinschaften zu verhandeln, und sie genießen eine Ehrfurcht, die aus dem allgemein anerkannten Glauben resultiert, dass ihr Wort heilig und ihre körperliche Unversehrtheit unverletzlich ist.
Auch auf gehobener politischer Ebene finden wir sogenannte Heiratsallianzen. Beispiele hierfür sind die Ehe der Schwester des Mande-Kaisers mit König Soumaoro Kanté und zuvor die Kaiser von Ghana, die sich Ehefrauen aus ihren Vasallenreichen holten. Die Kinder aus diesen Ehen wurden im Falle von Konflikten zu Vermittlern. Ähnliche Konstellationen beobachten wir auch im europäischen Mittelalter.

Die Diplomatie
Sie wird bei Konflikten und Beziehungen zwischen ausländischen Entitäten praktiziert. Im 10. Jahrhundert behandelte der Kaiser von Ghana, obwohl er Animist war, seine muslimischen Gastgeber, die meist muslimische Händler waren, mit großer Rücksicht. Dies geschah natürlich auch aus Eigeninteresse, da er auf den von diesen Händlern dominierten Transsahara-Handel angewiesen war. Nach dem Sieg von "Kirina" im Jahr 1235, der als Ausgangspunkt für das Reich von Mali gilt, entfalteten Soundjatas Männer eine umfassende diplomatische Kampagne. Sie bezogen die ghanaischen Einheiten nach dem Zerfall Ghanas in die Gestaltung des öffentlichen Lebens ein. Die Bemühungen gipfelten in der Konferenz von Kurukan Fuga. Hier wurden Regeln für das Zusammenleben und Grundrechte für alle Gesellschaftsschichten erarbeitet. Es entstand im Jahr 1236 die erste Verfassung und Menschenrechtserklärung Afrikas südlich der Sahara. Für afrikanische Historiker und Juristen besitzt diese Erklärung die gleiche Bedeutung wie die englische Magna Charta von 1215, die französische Menschenrechtserklärung von 1789 und die amerikanische Bill of Rights von 1789/91.

Wirtschaftliche und handelspolitische Zusammenarbeit
In Mali war der Markt nie nur ein Raum für Geschäfte. Er ist auch heute noch ein Ort der Geselligkeit, an dem zwischenmenschliche und interkommunale Beziehungen geknüpft werden. Die Händler nutzen diese wöchentlichen Treffen, um ihre Streitigkeiten den Ältesten oder Notabeln unter ihnen vorzulegen und akzeptieren somit die gütlichen Schiedssprüche, die aus dem Schiedsverfahren dieser Notabeln hervorgehen. 

Fazit und Ausblick  

  • Konfliktlösung im malischen Kontext

Neben der modernen Justiz und den oben beschriebenen traditionellen Mitteln der konventionellen Konfliktlösung können bei Streitigkeiten zwischen Privatpersonen auch immer Personen mit einem gewissen Ansehen beteiligt sein. Diese Personen fungieren dann als Schiedsrichter und schlagen den Parteien eine Lösung vor. Heute gibt es in Mali einen offiziellen médiateur de la république (staatlichen Vermittler). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lösung von Konflikten und Streitigkeiten im traditionellen Mali eher auf Prävention, Dialog, Vermittlung, Schlichtung und Diplomatie als auf kriegerische Methoden oder Verordnungen setzen. Dies gilt sowohl für private als auch für öffentliche Streitigkeiten. Es sieht jedoch so aus, dass die malische Art der Vermittlung den aktuellen Konflikten und Herausforderungen eher hilflos gegenüber steht.

  • Diplomatische Gepflogenheiten hinterfragen
Diplomatische Gepflogenheiten müssen auf ihre mediative Funktionalität überprüft werden. Als kürzlich der deutsche Botschafter wegen „unangemessenen kritischen Verhaltens gegenüber der aktuellen Militärregierung“ aus dem Tschad verwiesen wurde, holte das Auswärtige Amt in Berlin zum diplomatischen Gegenschlag aus und bat die Botschafterin des Tschad, Deutschland zu verlassen. So ist das eben in der Diplomatie. aber - wie sollen so Meinungsverschiedenheiten und Konflikte gelöst werden?

Bei Konflikten schweren Ausmaßes gilt: "Mit Terroristen reden wir nicht und mit aggressiven Tyrannen auch nicht!" Für eine Friedenslösung und eine fundamentale tragfähige Konfliktlösung ist es jedoch unumgänglich, dass Freund und Feind an einem Tisch sitzen, ungeachtet der möglichen bzw. unmöglichen Forderungen, die im Raum stehen mögen. 2015 wurde der Friedensvertrag von Algier zwischen im Norden Malis agierenden Rebellen und der Zentralregierung in Bamako unterzeichnet. Die Umsetzung gelang bisher nicht, weil die radikalen, teilweise von außen gesteuerten Gruppen, die an der Basis immer wieder für Terror sorgen, am Prozess nicht ausreichend bzw.  gar nicht beteiligt waren - und dies auf ausdrücklichen Wunsch der malischen Regierung und der französischen Schutzmacht. 

Politologen wie der Kanadier Bruno Charbonneau vertreten die Meinung, dass die einseitge Betonung des Kampfes gegen den Terrorismus die Optionen für Friedensverhandlungen eher beschneiden. Es wäre also unlogisch, diejenigen zu bekämpfen, mit denen man anschließend Frieden schließen möchte. Die Logik erschlösse sich nur dann, wenn es tatsächlich gelänge, mit militärischen Maßnahmen die betroffenen Terroristen gänzlich auszumerzen, was aber illusorisch ist. Darüberhinaus verändern sich die Bedingungen, die bei einem formellen Friedensprozess zu berücksichtigen sind. Heute sind sie anders als noch zu Beginn des Konflikts in den Jahren 2012-2013. Charbonneau sagt: "Der Konflikt von 2012 hat sich zu einem Mehrfachkonflikt entwickelt, die bewaffneten Gruppen haben sich fragmentiert oder neu formiert und die Gewalt zeigt besorgniserregende Tendenzen der Ethnisierung und Tribalisierung. Das Zentrum Malis unterstreicht die Komplexität der Konflikte jenseits von Kommentaren und Analysen zum Terrorismus und jenseits der "einfachen" historischen Probleme des Tuareg- oder Dschihadistenaufstands. Tatsächlich veranschaulicht Zentralmali die Wechselwirkungen zwischen mehreren grundlegenden Themen: Regierungsführung, legitime Gewalt, Justiz, Landfragen, Spaltungen zwischen den Gemeinschaften, regionale Integration, Klimawandel, Entwicklung und sogar patriarchalische Institutionen." Die Konfliktdynamiken finden unter bestimmten Bedingungen statt und verändern sich, Sie werden oft von internationalen Akteuren auferlegt bzw. vorgegeben. Die lokalen Akteure nehmen diese Bedingungen an, passen sich an, leisten Widerstand, verändern sich oder ignorieren sie. Unter diesen Umständen ist eine kulturrelevante Konfliktbewältigung nur schwerlich möglich. Die internationalen Bemühungen in Mali sind multiperspektivisch und von Widersprüchen geprägt. Die LInie verläuft zwischen friedenserhaltenden Maßnahmen einerseits und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung andererseits. Die internationale Diplomatie verdeckt darüber hinaus sekundäre Interessen wie wirtschaftliche Vorteile, die sich aus der Kontrolle der unermesslich großen Sahelzone und der Sahara ergeben, oder die Unterbindung von Flüchtlingsströmen Richtung Europa. Die mangelnde Transparenz sorgt in der malischen Bevölkerung für Misstrauen und verhindert so den Erfolg von Friedensmissionen.

  • Vermittlung und die Suche nach dem "neutralen Dritten"

Die Blockbildung von rivalisierenden politischen, kulturellen und religiösen Systemen ist eher eine westliche Erfindung. In Mali erleben wir, dass eine Partei, die als Siegerin aus Wahlen hervorgegangen ist durchaus Personen aus dem gegnerischen politischen Lager bei der Regierungsbildung mitberücksichtigt (gouvernement d'unité nationale).
In den aktuellen Konfliktherden dieser Welt, so mein Eindruck, sind die „neutralen Dritten“ rar gesät. Das liegt daran, dass Politiker und Diplomaten zwar einen gekonnt unbedarften Smalltalk beherrschen, sich aber in der Sache zu schnell festlegen und sich auf eine Seite schlagen. Zum anderen verfügen ausländische Diplomaten über zu wenig kulturelle und historische Kenntnisse, um ihre Diplomatie „zu verwurzeln“ und auf einer stabilen Vertrauensbasis entsprechend zu kontextualisieren. Außerdem besteht oftmals keine Bereitschaft, sich mit der Gegenseite an einen Tisch zu setzen, um Mittelwege zu suchen. So bleibt es beim Austausch von eigenen (eigennützigen), nicht miteinander zu vereinbarenden Positionen. Es werden zu oft Vorbedingungen gestellt, die von der anderen Seite als Überforderung und als nicht akzeptabel eingestuft werden. Die Folge: Vermittlungen und Konfliktlösungen kommen erst gar nicht zustande. Konflikte lösen sich dann meistens erst am Ende eines langen Prozesses, der von Zermürbung und hohen Verlusten gekennzeichnet ist. Der Friede wird erreicht durch den Wunsch nach solidarischer Klärung.

  • Einwurf - Ist die territoriale Integrität ein absolutes Prinzip?
Der statische Rückgriff auf Rechte steht Einigungungsprozessen (kelenya) oftmals im Weg. Dazu gehört z.B. das sog. Selbstbestimmungsrecht bzw. das Recht auf territoriale Unversehrtheit. Aber ist dieses Recht wirklich ein absolutes, unantastbares Prinzip? Einige Beispiele lassen daran zweifeln. So wurde Eritrea z.B. 1993 nach 30 Jahren Krieg von Äthiopien unabhängig. Die territoriale Integrität Äthiopiens wurde neu festgelegt und die von Eritrea neu geschaffen. Der Südsudan wurde im Jahre 2011 als eigener Staat als Folge eines Referendums von der Republik Sudan unabhängig. Auch hier wurde die vormals geltende territoriale Integrität neu verhandelt. In der Kolonialzeit wurden die Grenzen von Territorien und die daraus entstandenen Staaten im Zuge der Unabhängigkeit mehr oder weniger willkürlich festgelegt, ohne die betroffenen Menschen und Volksgruppen zu befragen. So wurde das angestammte Gebiet der Volksgruppe der Bobo im vormals Französischen Westafrika geteilt und jeweils zu einem Teil dem heutigen Mali und Burkina-Faso zugesprochen. Die ursprüngliche territoriale Unversehrtheit des Bobolandes wurde untergraben. Der Begriff "territoriale Unversehrtheit" stammt aus dem Völkerrecht. Die staatliche Integrität wurde in der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 2, Absatz 4) prinzipiell festgelegt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass sogenannte staatliche Hoheitsgebiete oftmals, wie schon erwähnt, willkürlich auf Kosten der schwächeren Partner festgelegt wurden und damit auf einer unrechtmäßigen Grundlage entstanden. Wir gestehen es ethnischen Gruppen zu, zumal wenn sie unterdrückt werden und der politische Gegner kein Demokrat ist, ihre territoriale Unabhängigkeit zu erstreiten. Auch ein solches Vorgehen wird mit dem Völkerrecht begründet. Die geschichtliche Realität verbietet es daher, territoriale Unversehrtheit als ein unumgängliches, absolutes Prinzip anzusehen.

Könnten Rückschlüsse aus der malischen Geschichte hilfreich sein für die aktuelle Krisenprävention und Konfliktbewältigung ? Inwiefern ist das Solidaritätsprinzip dem westlichen Prinzip der Selbstbestimmung überlegen ? 


Kommentare

Unser Partner

Schule in Sabalibougou

SPENDENFORMULAR

Spendenkonto

Spar- und Kreditbank Witten

IBAN: DE86452604750009110900
BIC: GENODEM1BFG

Zweck: Meier - Mali