Die Blumen und das zerbombte Feld

Where are all the flowers gone? Wo sind all die Blumen hin? Sie wurden von Mädchen gepflückt, die junge Männer heirateten. Die trugen Uniformen und zogen in den Krieg. Als Soldaten landeten sie in Gräbern. Dort wehen die Blumen im Wind. Die Zeit verging. Lang ist es her. Wann werden sie es endlich lernen? - Das ist die Quintessenz eines Friedenssongs von Bob Seeger aus dem Jahr 1955, der in den 1960er Jahren dank der großartigen Joan Baez eine Renaissance im Kontext des Vietnamkrieges erlebte. Das Friedenslied wurde inspiriert von dem russischen Roman "Der stille Don". Darin war Seeger auf das Donkosakenlied "Koloda Duda" gestoßen. Der Roman bezieht sich auf den Russischen Bürgerkrieg im Jahr 1917 und die Konfrontation zwischen den bolschewistischen Trotzkisten (Rote Armee) und den konservativen Kräften des zaristischen Establishments (Weiße Armee). Es ist eine ganz andere Zeit, wo sich Seegers Song auf die Suche nach dem Sinn des Krieges macht. Der Vietnamkrieg ist nicht mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu vergleichen, und der hat auch wenig mit der Russischen Revolution zu tun. Doch immer dann, wenn ein Krieg ausbricht und wir uns der Folgen gewahr werden, bleibt die einfache Frage: Wann werden sie es endlich lernen, Konflikte friedlich zu lösen? Der definierte Sinn, den ihr zu finden meint und für den es sich offensichtlich zu kämpfen lohnt, wird die Wunden nicht heilen und die Spuren des Todes nicht beseitigen können. Am Ende, wenn ihr auf den Friedhöfen den Tod eurer Söhne und Töchter beklagt, dann werdet ihr es erkennen. Im Vietnamkrieg sind 58.000 amerikanische Soldaten gestorben. Zwei Millionen Zivilisten verloren ihr Leben. Tausende, Hunderttausende sind es, die im Ukrainekrieg bereits ihr Leben gelassen haben. Jeder Krieg, ob berechtigt oder unberechtigt geführt, hinterlässt verbrannte Erde, Tote und traumatisierte Menschen, die oftmals den Leidensweg ihrer Seele mit dem Suizid beenden. In der Tiefe des Herzens steckt die Sehnsucht nach dem Frieden, gerade in diesen konfliktreichen Zeiten. Weil das so ist, muss diese Sehnsucht zur Sprache kommen, poetisch, sich kraftvoll über all die kontroversen Debatten legend, die sooft mit harten und verbissenen Herzen geführt werden.

Die einen sagen:

Es ist klar auf wessen Seite wir stehen. Russland hat die Ukraine brutal überfallen. Die Russen haben das Völkerrecht gebrochen. Waffenlieferungen an die Ukraine sind mehr als berechtigt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind „die besseren Werte“, die verteidigt werden müssen. Die historisch begründeten Machtansprüche Putins auf die Ukraine und andere Staaten, die zu der ehemaligen Kiewer Rus, zum Zarenreich bzw. der Sowjetunion gehörten, sind "von gestern" und unlogisch, weil sie einseitig interpretiert werden. Das Kiewer Rus ist nicht nur die geschichtliche Heimat Russland, sondern auch die der Ukraine und die von Belarus. Das Zarenreich war ein Kolonialreich, auf dessen Rücken Russland seine Größe stützt. „Der Westen“, zumindest die meisten der westlichen Staaten, haben sich angesichts der Entwicklungen und Verlautbarungen Putins klar positioniert und stehen auf der Seite der Ukraine. Vor dem zunehmenden Einfluss der Wagner-Gruppe wird gewarnt. In mindestens 12 afrikanischen Ländern ist die Wagner-Gruppe laut Informationen des Netzwerks "Global Initiative against Transnational Organized Crime" nachweislich repräsentiert und nimmt politischen, wirtschaftlichen und militärstrategischen Einfluss. Julian Rademeyer (Netzwerk GIATOC) schreibt in einem im Februar 2023 veröffentlichten Bericht: "... dass die Wagner-Gruppe heutzutage der einflussreichste russische Akteur in Afrika ist, und dass ihre Aktivitäten und jene ihrer Tarnfirmen einen bösartigen Einfluss auf den Kontinent ausüben." Dazu gehören Verflechtungen in lokale Firmen, militärische Ausbildungsmissionen, Waffengeschäfte sowie teilweise Gratis-Lieferungen von Nahrungs- und Düngemitteln. Diese Maßnahmen ziehen viele afrikanische Staaten auf die Seite Russlands und schwächen den Einfluss Europas und Nordamerikas.

So weit, so gut. Politisch nachvollziehbar, zumindest in den meisten Punkten. Schnell vergessen sind die völkerrechtswidrigen Militäroperationen der Amerikaner und der NATO im Nahen Osten und die Inkaufnahme Tausender ziviler Opfer im Kampf gegen den Terrorismus. All diese Sachverhalte werden auf politischer und militärstrategischer Ebene in Europa und weltweit kontrovers diskutiert. Nie endende Talkshows, ellenlange Artikel in den Medien beschäftigen sich mit dem Thema. Und auch in christlichen Kreisen redet man sich die Köpfe heiß. Weltszenarien werden erklärt. Die Furcht vor der Veränderung der Weltordnung macht die Runde. Man fürchtet einen noch stärkeren Einfluss von China und Russland im Rahmen ihrer vor einigen Tagen zementierten „strategischen Partnerschaft“. Das ist die eine Seite …

Und die anderen:

Die andere Seite habe ich in Mali entdeckt. Viele sagen: Der Krieg in der Ukraine ist ein europäisches Problem. Aus Gesprächen, offiziellen Verlautbarungen und den lokalen Medien entnehme ich, dass viele Menschen mit Russland sympathisieren. Das Phänomen taucht also nicht nur in einigen europäischen prorussischen Gruppen auf. Putin sei vom Westen provoziert und die Ukraine vom Westen unterlaufen und gegen Russland aufgehetzt worden. Man habe ihn politisch isolieren und marginalisieren wollen. Deshalb habe Russland das Recht, sich zu wehren. "Rettet den Donbass", skandieren Demonstranten auf den Straßen der Zentralafrikanischen Republik. Viele Afrikaner folgen dem russischen Narrativ. Putins Konterfei taucht in den Straßen Bamakos auf, und man erhofft sich von Russland Vorteile in sicherheitspolitischer und versorgungstechnischer Hinsicht. Dabei nehmen die Leute in Mali die nationalistischen Tendenzen ihrer Obrigkeit und das Zerwürfnis mit vielen westlichen Staaten billigend und mit Überzeugung in Kauf. So hat die malische Regierung den Geldfluss aus Frankreich, der für die Entwicklungsarbeit gedacht war, gestoppt. Man ist also bereit einen Preis zu zahlen. Politiker aus Russland werden mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht empfangen. Die Begegnung mit westlichen Diplomaten wirkt dagegen zunehmend unterkühlt. Mali hat kürzlich in der UNO ein prorussisches Votum abgegeben, nachdem der russische Außenminister Mali besucht hat. Der Einfluss der Wagner-Gruppe und der Russischen Föderation in vielen Teilen Afrikas nimmt zu. Russische Söldner der Wagner-Gruppe kooperieren z.B. mit der malischen Armee zur Abwehr des islamistischen Terrors und bei der Bekämpfung der Kriminalität. Die bei diesem Kampf auftretenden Kollateralschäden und von westlichen Politikern und Nichtregierungsorganisationien monierten Menschenrechtsverletzungen werden in Kauf genommen und relativiert. Bei Demonstrationen in Bamako werden Plakate mit der Aufschrift hochgehalten "Merci Wagner!". Unterdessen versuchen westliche Regierungsvertreter bei Besuchen in afrikanischen Staaten vergeblich, sie zu eindeutigen Stellungnahmen gegen Russland zu bewegen. Hinzu kommt, dass viele afrikanische Länder schon lange in großem Maße mit China, einem strategischen Verbündeten Russlands, zusammenarbeiten, wenn es um den Ausbau der Infrastruktur geht – und das mit Erfolg.  

Die skizzierten Positionen sind Meinungen, subjektive und "gefühlte" Einschätzungen, meist spekulativ und manchmal faktenbasiert. Leider wird die öffentliche Meinung zu oft von kreierten Narrativen geprägt. Einseitigkeiten und Effekthascherei heizen die Stimmung an und verzerren das Bild. Ein Beispiel ist Daniele Ganser, ein schweizer "Pseudoexperte", der Vorträge über den Hintergrund des Ukrainekrieges hält, damit Hallen füllt und an Publikationen Geld verdient, obwohl er keine der Landessprachen spricht und kein ausgewiesener Experte für osteuropäische Geschichte ist. Wissenschaftlich nachweisbare Fakten gehen in der Debatte oft unter. Die Erklärungen von Prof. Dr. Klaus Gestwa, Experte für osteuropäische Geschichte von der Universität Tübingen, haben mir geholfen, die wichtigsten Fragen und Annahmen rund um den Ukrainekonflikt einzuordnen (Thesencheck von Prof. Gestwa).

Der Ukrainekonflikt wird zugunsten einer antiwestlichen Haltung instrumentalisiert.

Der Süden und Osten beginnt, sich gegen die empfundene Hybris und Doppelmoral des Westens aufzulehnen. Die Erklärungsversuche des Westens, dessen Moralvorstellungen von einer gerechten Politik und Weltordnung überzeugen längst nicht alle. Die Universalisierung westlicher Werte, Regierungsformen und Strategien werden als imperial und bevormundend empfunden. Welterklärer aus dem Westen beanspruchen insgeheim immer noch für sich, dass sie wüssten, wo es lang geht und was gut ist für die Welt. Leute aus dem Westen erheben ihre Zeigefinger und sagen es "den Afrikanern", dass sie einen Pakt mit dem Teufel eingehen, wenn sie Russland und China zu stark ins Boot nehmen. Es wird vergessen, dass wir uns in Europa solche Empfehlungen seitens afrikanischer Politiker verbitten würden. 

Der Krieg in der Ukraine wird instrumentalisiert. Es bietet sich die Gelegenheit, mit anderen Bündnispartnern an Einfluss zu gewinnen, auch wenn diese genauso wie der Westen machtpolitische Ziele verfolgen. Dass die Öffentlichkeit in Mali sich lautstark auf die russische Seite schlägt und deren von den Medien unterstützte Meinung vertritt, hat also nicht nur etwas mit dem Ukrainekonflikt zu tun. Vielen Afrikanern eröffnet sich in der aktuellen Zeit die Chance, dem Westen aus unterschiedlichen Gründen die kalte Schulter zu zeigen. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass die Mehrheit der afrikanischen Staaten sich mit offener Kritik bedeckt hält, um die wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus der Zusammenarbeit mit westlichen Staaten ergeben, nicht aufs Spiel zu setzen. Die Welt verabschiedet sich aus ihrer Bipolarität (freier Westen gegen sozialistischen Osten) und entwickelt sich hin zu einer multipolaren Weltordnung (Bildung mehrerer Einflusszonen in West, Ost und Süd), die Politik, Wirtschaft, Moralvorstellungen, Kultur und Militärstrategien gleichermaßen umfasst. Dieser von dynamischer Liminalität (Übergang, Schwellenzustand) geprägte Prozess bringt Instabilität mit sich, und es wird sich zeigen, was das Gerangel um Einflusssphären in Zukunft bringen wird,

Zurück zur Ukraine. Es ist verständlich, dass Ukrainer die Grenzen von 1991 verteidigen und die Russen zum Rückzug zwingen wollen – und das mit allen Mitteln. Ob das gelingen wird, ist eine andere Frage. Wenn Putin den Krieg stoppt, dann wäre er zu Ende, sagt die große Mehrheit der Ukrainer. Würden wir, die Ukrainer, den Krieg einseitig beenden und territoriale Kompromisse eingehen, wäre die Existenz des ukrainischen Staates in Frage gestellt und andere Staaten würden in der Folge Opfer russischer Aggression und Expansionspolitik. Der Krieg ist für die Ukrainer ein Überlebenskampf, der ihnen von Russland aufgezwungen wurde. Es mag stimmen, dass es bisher keine wirkliche Chance zu Friedensverhandlungen gegeben hat. Weder die einen, die es versuchen wollten, noch diejenigen, die deren Erfolg kategorisch ausschließen, wissen es mit Sicherheit. Derweilen nehmen russische, ukrainische und westliche Militärstrategen in der Debatte gleichermaßen den schwer verdaubaren Wortkloß "Abnutzungskrieg" oder "Zermürbungskrieg" in den Mund. Er wird in Kauf genommen. Selbst wenn der Sieg gelingt, werden bis dahin Hundertausende ihr Leben auf den Schlachtfeldern und in der Vertreibung verloren haben. Doch auch hier gibt es in christlichen Kreisen unterschiedliche Meinungen. Es ist natürlich das Recht der Ukrainer, sich zu positionieren, ihre Ziele zu formulieren und dafür zu kämpfen bis zum Umfallen. Ihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen sind beeindruckend. Sie nehmen die Verwüstung ihres Landes, Leid und Tod wegen eines höheren, noblen Zieles in Kauf. Wer sind wir, dass wir sie in Frage stellen und uns mit ihnen verbal anlegen sollten? 

Es geht für mich als Christ nicht in erster Linie um die Frage, ob meine Perspektive auf die Welt die richtige ist, oder auf wessen Seite ich mich schlage und welcher Lesart oder welchem Narrativ ich folge, oder ob Friedensverhandlungen möglich sind oder nicht. Es geht um das genuin Christliche.

Wo ist der dritte Weg?  

Christen sind  nicht nur Bürger und politisch Interessierte. Sie sind in erster Linie ihrem Herrn Jesus Christus verpflichtet. Deshalb stellt sich die Frage: „Was würde Jesus tun?“ „Was entspricht der Nachfolge Jesu mitten in den Konflikten der Welt?“
Worin besteht der Weg der Christen und der Gemeinde Jesu jenseits von Pro und Kontra und mitten im Gewusel kontroverser Meinungen? Wer säht den Samen der Versöhnung aus? Wer macht sich auf die Suche nach den Blumen auf den zerbombten Feldern der Verwüstung?
Das was mich in der Debatte, auch in christlichen Kreisen, am meisten betroffen macht ist die Tatsache, dass die friedenstiftende Gesinnung in Vergessenheit zu geraten droht. Eine löbliche Ausnahme bilden Gebets- und Fastentage wie zuletzt anlässlich des ersten Jahrestages des Kriegsbeginns am 24. Februar. Hier wird für den Frieden und den Abbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen gebetet. Es wird wohltuend und betroffen geschwiegen, und die lauten Meinungen werden für einen Moment ausgeblendet.

Dennoch erlaube ich mir die Frage, ob der Auftrag der Christen wirklich darin besteht, sich auf Biegen und Brechen politisch zu positionieren, die russische Wagner-Gruppe zu verteufeln und sich für Waffenlieferungen an die Ukraine auszusprechen, oder andererseits sich dem „Friedensmanifest“ deutscher Intellektueller anzuschließen. Zu diesen Fragen kann und darf man eine politische Meinung haben. Doch es darf dabei nicht bleiben. Zum biblischen Auftrag der Friedensstiftung tragen Einseitigkeiten nicht bei. Christen in Mali stehen mehrheitlich hinter „ihrem Militärregime“. Wenn man versucht, mit ihnen zu diskutieren und die Mehrheitsmeinung des Westens in der Frage des Ukrainekonfliktes in die Debatte einzubringen, erntet man Widerspruch und Manipulationsvorwürfe. Man kommt auf keinen grünen Zweig. Die Positionen verkeilen sich ineinander und verstellen den Weg für Friedensgedanken.

„Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes heißen“, Matthäus 5,9
„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?
Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?
Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes?
Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, Matthäus 5,44-48


Gelten diese Sätze aus der Bergpredigt immer noch? Jesu öffentlicher und in erster Linie an die Jünger gerichtete Diskurs ist zumindest für Christen bindend, auch wenn man ihn aus der großen Politik heraushält. Jesus behauptet, dass diejenigen, von denen friedvolle Worte und Taten ausgehen, wahre Kinder Gottes sind. Das bedeutet aus meiner Sicht, sich zurückzuhalten mit politischen Positionierungen und Beurteilungen. Frieden stiften – das bedeutet nicht, sich einseitig auf die Seite der Politiker und Welterklärer zu schlagen. Den Frieden suchen bedeutet mehr, als zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und für das erste zu kämpfen und das zweite zu eliminieren. Frieden stiften bedeutet, dass Christen sich einig werden, dass im Gebet, im Fasten, im mäßigenden Diskurs, in der Solidarität mit Opfern und Schwachen, in der Begegnung mit dem feindlichen Lager und in vermittelnden Maßnahmen die richtigen Ansätze für einen alternativen Kurs bestehen. Christen müssen sich für den „dritten Weg“ stark machen, der jenseits politischer Festlegungen liegt und sich im Pro und Kontra verliert. Wer sich zu schnell und mit Vehemenz festlegt, sich auf eine Seite schlägt und die eigene subjektive Erklärung der Welt zum Maßstab macht, der verliert die Eignung zur friedensstiftenden Mediation. Als Nachfolger Jesu kann ich nicht vorrangig in politisch und menschlich nachvollziehbaren Kategorien denken und mich einer Mehrheitsmeinung anschließen. Ich kann und muss sie als verantwortlicher Bürger berücksichtigen und sinnvolle Kompromisse fördern. Doch als Nachfolger Jesu bin ich in erster Linie dem Friedensstifter Jesus Christus verpflichtet. Er ist Herr. Er ist Meister. Ihm gilt meine erste Loyalität (F. Paul). Und weil das so ist, bin ich als Christ dazu aufgerufen, den Weg des Friedens zu suchen.

Friedensstifter sind keine neutralen Ignoranten, keine Naivlinge, die einen Bogen machen um die komplizierte Realität dieser Welt. Friedensstifter nennen das Böse beim Namen, das moralisch Verwerfliche und das Unrecht. Sie wissen um die Zwickmühlen adäquater Entscheidungsfindung. Politiker tragen Verantwortung für eine zu rechtfertigende Friedenspolitik, die eventuell Waffenlieferungen und Maßnahmen zur Verhinderung größeren Unglücks umfasst. Gleichzeitg eröffnet sich Jesusnachfolgern der evangeliumsgemäße Zugang, den Menschen, die das Böse und das Unrecht verursachen, in die Augen zu schauen und den Feinden des Rechts und der Menschlichkeit mit einer Haltung der Versöhnungsbereitschaft zu begegnen. So tat es Jesus. Er nannte Hypokrisie, Unrecht,  gottwidriges Handeln und Schuld beim Namen und kehrte dennoch in die Häuser derer ein, die sie auf sich geladen hatten. Er suchte nicht die Kontroverse. Er zeigte Auswege auf, weil er nicht zu einem Lager gehörte. Er kam einfach zum Essen vorbei. Er wollte reden und den Leuten dabei in die Augen schauen.

Ich erinnere mich an einen Gefängnisbesuch in der Nähe der malischen Hauptstadt Bamako. Wir betraten die Zellen der Gefangenen, so wie wir es immer taten, wenn wir Essen und Medikamente mitbrachten, um der Unterversorgung und den Krankheiten etwas entgegenzusetzen. Wir brachten auch die biblische Botschaft mit und sprachen von Neuorientierung und von Versöhnung, die die Beziehung der Menschen zu Gott und untereinander erneuert. Eines Tages standen uns Jihadisten gegenüber, die man tags zuvor im Norden des Landes gefangengenommen hatte. Es waren ausgedürrte Männer, in weißen Gewändern. Ihre Gesichter waren mit Narben überzogen und von ideologischer Härte gezeichnet. Ihre Hände waren wie Leder, und in ihren Armbeugen hatten sie krampfhaft einen Teil des Korans eingeklemmt. Wir schüttelten ihre Hände. Wir gaben ihnen Essen. Wir begegneten ihnen mit einem freundlichen Blick, obwohl wir wussten, dass sie uns und die Botschaft, die wir mitbrachten, bis aufs Blut und im Grunde ihres Herzes hassten. Es war ein kleiner, zarter Versuch, Frieden zu stiften, und die Spirale des Hasses zu durchbrechen. 

Die Suche nach dem Frieden ist eine Konstante, ein tief verankertes Merkmal der Jesusnachfolge. Diese Konstante darf nicht durch zeitgeschichtliche Entwicklungen, durch Kriegskonstellationen, Zeitenwenden oder politische Meinungen, noch nicht einmal durch eigene emotionale Betroffenheit in Frage gestellt und aufgegeben werden. Anders formuliert: Meine auf der Verantwortungsethik basierenden Entscheidungen und meine politische Überzeugung kann ich je nach Entwicklung verändern und kontextualisieren. Doch die grundsätzliche gesinnungsethische Ausrichtung gilt dem Frieden. Das nenne ich verantwortungsethischen Pazifismus.
Ich werde nach wie vor den Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ vertreten. Waffen schrecken ab. Waffen helfen bei der Vergeltung und bei der Verteidigung – doch Frieden schaffen sie nicht. Ich stehe zu meinen Überzeugungen, die mich vor Jahren zu einem „Kriegsdienstverweigerer“ gemacht haben, ganz gleich, ob meine Meinung als veraltet oder politisch unkorrekt eingestuft wird. Es war das Evangelium, die besondere Geschichte Deutschlands und auch familienbiographische Aspekte, die mir halfen, meine Entscheidung zu begründen. Es ist mir zu einfach zu sagen, man müsse seine errungene Überzeugung ändern, nur weil sich die Zeiten geändert haben. Und wenn man seine Ansichten und Überzeugungen ändert, dann gilt es zwischen Konstanten (Grundüberzeugungen) und Variablen (relevanten Handlungen) zu unterscheiden. Und es geht um die Frage, ob ich bereit bin Schuld auf mich zu laden, wenn das Böse überhand nimmt und mich zum Griff zur Waffe zwingt. 

Es geht ja nicht nur um die Frage, ob man als Bürger eines Landes einen Präventiv- oder  Verteidigungskrieg rechtfertigen kann und sich anderseits gegen einen Stellvertreter- oder Angriffskrieg ausspricht. Für die einen ist der Krieg Versagen der Politik, oder letztes Mittel und für die anderen ein explizites, bewusst eingesetztes Instrument von Machtpolitik. Es geht nicht darum, ob man Armeen bejaht oder verneint, sondern für einen Christen geht es darum, den Weg der Nachfolge Jesu im Konfliktfeld von Krieg und Frieden zu finden und zu gehen.

Wie beten wir in diesen schwierigen Zeiten?
Beten wir "neutral" für ein Ende des Krieges? Beten wir einseitig für einen Sieg der Ukraine? Beten wir für noch mehr Waffenlieferungen? Beten wir dafür, dass Gott Putin schlaflose Nächte bescheren möge und dass ihm die Gräuel des von ihm angezettelten Krieges als Albtraum wie ein zurückkehrender Bumerang um die Ohren fliegt? Machen wir uns in unseren Gebeten auf die Suche nach den „Menschen des Friedens“, nach Vermittlern? 

Welche friedensstiftenden Maßnahmen und Signale gibt es?
Es werden Konferenzen organisiert, wo Ukrainer ihre Sicht der Dinge schildern. Die Medien berichten mehrheitlich über die Hilfen, die Ukrainer zugutekommen. Deutsche StudentInnen wollen ein Auslandssemester in Sankt Petersburg absolvieren. Es wird ihnen untersagt. Partnerschaften und freundschaftlicher Austausch geraten unter die Räder. Warum? Muss das so sein?
Daneben gibt es Tausende meist privater Initiativen, die sich um Geflüchtete kümmern und Hilfslieferungen organisieren. Das ist gut, hilfreich, solidarisch, befreiend und mutig. Aber – gibt es daneben nicht auch die Gemeinschaften und Initiativen, wo sich Russen und Ukrainer gemeinsam auf zivilgesellschaftlicher und kirchlicher Ebene für Verständigung, materielle Versorgung und Frieden einsetzen? Ja, diese Initiativen gibt es in der Ukraine, in Russland und in Deutschland. Doch wir hören zu wenig davon. Warum?
Ich lese von privaten Initiativen und Stiftungen in Russland, die ukrainischen Geflüchteten humanitäre Hilfe zukommen lassen und ihnen sogar bei der Weiterreise in die EU behilflich sind. Es gibt Russen, die die aggressive „Militäroperation“ Russlands in der Ukraine ablehnen. Sie sagen, dass sie durch ihre Hilfe das von ihren Landsleuten begangene Unrecht irgendwie wiedergutmachen wollen. Ich wurde aufmerksam auf eine russische Familie in Bonn, die geflüchtete Ukrainer bei sich aufgenommen hat. Die russische Familienmutter sagt: "Belarussen, Ukrainer, Russen - wir haben in unseren Kulturen extrem viel gemeinsam. Ich frage mich, wo wir uns eigentlich unterscheiden. Und jetzt, seit diesem Krieg, sollen wir auf einmal Feinde sein? Wieso?"
Viele sog. „Russlanddeutsche“, die selber vor Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland umgesiedelt oder geflohen sind, solidarisieren sich mit den Ukrainern und bieten ihnen Haus und Hof an und integrieren sie in ihre Glaubensgemeinschaften. Es gibt Gottesdienste, wo Ukrainer und Russen gemeinsam Gott feiern und sie die Erfahrung machen, dass der Krieg sie nicht zerreißt. Es sind die gleichen Gottesdienste, wo Geschwister unter Tränen die Nachricht vom Tod eines gefallenen oder verletzten Verwandten weitergeben. Es gibt Versuche, durch Treffen und Konferenzen, kirchliche Vertreter aus Russland und der Ukraine ins Gespräch zu bringen. Das Treffen von russischen Pastoren mit einem Pastor aus der Ukraine in Straßburg, das die Allianz-Mission plant, ist dafür ein Beispiel.
Das ist alles nicht einfach in Kriegszeiten, wo die Gemüter belastet sind und die Emotionen hoch kochen. Es muss das Herz eines ukrainischen Christen schier zerreißen, wenn er einerseits für Frieden betet und andererseits den Tod von Verwandten beklagt und die Waffenlieferungen an sein Land aus Gründen der Loyalität und des puren Überlebenskampfes unterstützt, wohl wissend, dass dadurch das Leid weitergeht.

Es geht darum, die Welt wahrzunehmen und zu verstehen, ohne sich dabei im Gewusel der Meinungen zu verstricken und sie dann im Sinne des Evangeliums und im Verbund mit Menschen guten Willens zu gestalten. Ich wünsche mir, dass Versuche der Mediation und der Friedensstiftung genauso stark ins Bewusstsein kommen wie Hilfsaktionen und gelebte Solidarität, oder geistliche Aufbrüche, die mitten im Krieg in der Ukraine zu beobachten sind.

Kommentare

  1. Harald12:29

    Wie gut, Alfred, dass du an den durch Jesus gewiesenen und von ihm vorgelebten Weg erinnerst - der jenseits von Pro und Contra verläuft. Wie hilfreich, dass du praktische, wahrhaftige Beispiele dafür nennst. Und wie schnell laufe ich ja selber in den ausgetretenen Trampelpfaden von "Entweder - oder" ... - Danke für diese Seh- und Gehhilfe!

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  2. Kurt Scheffe18:36

    Lieber Alfred
    Vielen Dank für diesen Beitrag.
    Die zentralen Aussagen finden meine höchste Zustimmung.
    - Was würde Jesus tun?
    - Frieden schaffen ohne Waffen!
    Mit herzlichem Gruß, Kurt Scheffe

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