Der Kreuzweg - eine Demonstration unantastbarer Würde


Auf einem ausgedienten Kassenzettel hatte ich mir während des Fernsehgottesdienstes am Karfreitag ein paar Gedankenfetzen notiert, die mir in den Sinn kamen. Ich war berührt von der Liturgie. Christiane, meine an Demenz erkrankte Frau, saß neben mir und summte ab und zu die ihr bekannten Melodien der Kirchenlieder mit: Oh, Haupt voll Blut und Wunden. Anker in der Zeit. -
Die Textlesungen zur Gefangennahme Jesu und seiner Kreuzigung gingen mir unter die Haut. Intuitiv begann ich diesen Eindruck mit den Überlegungen zur Menschenwürde zu verknüpfen, die mich in den letzten Wochen beschäftigt hatten. Als sich nach dem aaronitischen Segen des Fernsehpfarrers der Brainstorm gelegt hatte, begann sich mein Kopf einen Reim zu machen und die Gedanken aneinanderzureihen.
Das Kreuz ist ein Ort der Schande und Erniedrigung, ein brutales Folterwerkzeug, an dem Räuber, entlaufene Sklaven und Mörder hingerichtet wurden. Gleichzeitig ist es der Ort höchster Ehre und der Erhöhung. Das Kreuz Jesu verbindet Unten mit Oben, Erde mit Himmel, Menschen mit Gott. Es ist der Ort, wo nicht nur der Sohn des Menschen leidet, sondern Gott selbst. Es ist der Ort, wo Gott seinen Sohn verlässt, damit ich aus meiner Gottverlassenheit aussteigen kann. Es ist nicht nur ein Ort, wo getrauert wird über den Verlust eines lieben Menschen. Es ist ein Ort, der Ehrfurcht und Hochachtung auslöst. Das Kreuz ist ein würdevoller Ort.
Wo wird die Würde des Menschen verortet? Wie wird sie im Leben sichtbar, im ganzen, im wahren Leben, das bekannterweise nicht nur von glänzender Glorie, sondern auch von Wunden verursachendem Leid geprägt ist? Wird die Würde Jesu nur in seiner Göttlichkeit, im spektakulären Wunder und in seinen Glauben weckenden und vollmächtigen Worten sichtbar? Verliert die Würde Jesu im Moment des Niedergangs, der öffentlichen Kritik, der Festnahme, der inszenierten Anklage, im entwürdigenden Schauprozess und beim Anblick des geschundenen Körpers ihren Glanz und ihre Wirkung? Gibt es einen würdevollen Leidensweg? Kann das Kreuz Jesu Christi Würde ausstrahlen?

Kreuzestheologie, Zwei-Naturen-Lehre, Entäußerung und Würde 
Martin Luther hat die theologia crucis (Theologie vom Kreuz) in den Mittelpunkt gestellt und als Maßstab für Lehre und Leben der Kirche entwickelt. Er tat dies, um die im scholastischen Mittelalter prägende theologia gloriae (Theologie der Herrlichkeit) abzulösen. Letztere denkt Wert und Sinn der Existenz spekulativ, lebensfern und von oben her. Die Kreuzestheologie impliziert das Leben; sie ist lebensnah. Das Kreuz ist Zuspruch. Es gibt Antworten, die im Leben und Sterben tragfähig sind. Das Kreuz fordert den Menschen zu einer Antwort heraus. Luther vertrat die Meinung, dass die "Theologie der Herrlichkeit" aufbläht und so Gott seine Ehre nimmt, weil sie suggeriert, man könne Gottes Herrlichkeit und seine Würde durch Vernunft und (aristotelische) Philosophie erkennen. Dagegen stellt er das Kreuz in den Fokus, das Menschen zwingt, das Wesen Gottes in seiner Menschheit, der Schwachheit und der Torheit zu erkennen. Die Größe Gottes, seine Herrlichkeit  und Würde werden im Leiden und am Kreuz erkannt. Luther hatte 1518 Thesen für die Heidelberger Disputation vorbereit. In der 20. These formuliert er: "So genügt oder nützt es keinem schon, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt … Also liegt in Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes". 
 
Lange Zeit hatte die Erbsündenlehre verhindert, vom Menschen als einer würdigen Person zu reden. Der Mensch hatte seine Rechte und Würde vor Gott verwirkt. Daneben trat die Unterwanderung der egalisierenden Bedeutung der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und ihrer Menschenwürde als conditio humanae (Grundannahme des Menschseins) durch diskrimminierende Abstufungen der Menschheit in Christen, Häretiker und Nichtchristen (Heiden, Juden, Muslime). Die Folge waren den Gegner herabwürdigende Maßnahmen wie Inquisition, Kreuzzüge, Zwangstaufen, Kolonisation und Sklaverei.
Das Kreuz Jesu hingegen wertet den Sünder durch den Zuspruch der Gnade auf. Gerechtigkeit und Würde vor Gott werden wiederhergestellt. Die reformatorische Theologie entlässt den Menschen aus seiner weltimmanenten vergeblichen Mühe, durch Leistungen Anerkennung und Würde vor Gott zu erlangen. Es ist alleine die von Gott und aus Gnaden erneuerte Beziehung, die den Menschen aufwertet und seine beschmutzte Würde reinwäscht. Auf die so erfahrene Gnade darf der Mensch im Glauben und mit freiem Gewissen anworten. Er ist frei. Glaubens- und Religionsfreiheit werden so bei den Reformatoren vorgebildet und fließen später in die moderne Menschenrechtskonzeptionen ein.
Das Inkarnationsdogma (Menschwerdung Jesu) bildet die Grundlage für die spätere Ausbildung der Trinitätslehre mit ihren diversen Tendenzen. Die Inkarnation sollte hervorheben, dass Gott wirklich Mensch geworden war, und die teilweise hochgradig spekulativ veranlagte Trinitätstheologie sollte herausfinden, inwiefern dieser menschgewordene und gekreuzigte Jesus Christus und „Rückkehrer zum Vater“ als wesensmäßiger Bestandteil der Gottheit gedacht werden kann, mit voller göttlicher Würde ausgestattet und als eigenständige Person (Hypostase) in Relation mit dem Vater und dem Geist. Die Bestätigung der Gottheit des Sohnes bezeugt seine würdevolle Stellung innerhalb der Trinität. Anders formuliert: Obwohl der Sohn Gottes mit der Niedrigkeit des Menschlichen in Berührung gekommen war und sich der reine göttliche Geist mit der befleckten und vergänglichen Materie verbunden hatte, wurde er weiterhin als gleichwertiges Mitglied der trinitarischen Familie respektiert.
 
Auf dem Weg zum Trinitätsdogma bildete sich zunächst auf christologischer Ebene die sog. Zwei-Naturen-Lehre heraus. Sie besagt, dass Jesus Christus „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ zugleich ist (Dyophysitismus). Die beiden Naturen sind in Christus „unvermischt“, „unverwandelt“, „ungetrennt“ und „unzerteilt“ existent. In seiner Menschlichkeit behält Jesus seine göttliche Natur, und in seiner Göttlichkeit bleibt die menschliche Wesensart erhalten. 
Die Würde Jesu ist in ihrer Göttlichkeit und Menschlichkeit ungeteilt und nicht veränderbar (unverwandelt).

Die Gottesknechtslieder des Propheten Jesaja (42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13-53,12) belegen den Zusammenhang von Opfer und Rettung, Schmach und Anerkennung, Leid und Heil. Dadurch entsteht ein "Mehrwert" an würdevoller Ausstrahlung, die der Gottesknecht genießt, weil er den Ort des Schreckens durchschritten hat und jetzt in royalen Räumen wohnt. Er genießt dieses Ansehen, weil er das schwerste Leid stellvertretend zum Heil aller Menschen überwunden hat.
Es ist wie bei einer Person, die es aus der Bronx bis in den Präsidentenpalast geschafft hat. Ihr zollen wir mehr Respekt und Bewunderung als einer Person, die aus aristokratischen Kreisen stammt, wo der Aufstieg plausibel erscheint und die den weiten Weg von Unten nach Oben, den abgewandten Blick der anderen und das Gefühl von Unterdrückung nicht kennt.

Die Würde des Unterdrückten bleibt unversehrt.
Jesaja 42, 4: "Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte."
Jesaja 50, 7: "Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde."
Jesaja 49, 5: "...und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.  
Dem siegreich aus dem Leid hervorgegangenen Gottesknecht kommt die Ehre und würdevolle Aufgabe der Weltmission zu, die darin besteht, allen Völkern der Welt den Weg zum Leben auszuleuchten.
 
Jesaja 53,1-12 unterstreicht die unantastbare, von unüberbietbarer Fülle geprägte Würde des zur Schlachtbank geführten Gottesknechts. Jesaja 53,3: "Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg". Die unehrenhafte, würdelose Behandlung wandelt sich jedoch in wertschätzende Anerkennung. 
Jesaja 53, 11: "Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben." Menschliche Abkehr und Missachtung sind kein Grund für Entwertung oder Entwürdigung. Das wäre ein Scheinmanöver. In Wirklichkeit spielt sich zwischen den Zeilen etwas Geheimnisvolles ab, das Gott allein bewirken kann. Aus dem, von dem alle schamvoll wegschauen wird der, auf den alle aufschauen, weil er zum Retter der Welt geworden ist.

Das neutestamentliche Pendant zu diesem Gedankenstrang finden wir im Philipperbrief des Paulus. Der Christushymnus aus Phil. 2,5-11 besagt ergänzend, dass Christus freiwillig auf den Verbleib in göttlichen Sphären und auf die exklusive Inanspruchnahme göttlicher Potenziale verzichtete (Kenosis = Entleerung, Selbstentäußerung), ohne die göttliche Natur einzubüßen. Diese Potenziale hat er nicht wie Beutegut festgehalten. Es war eine funktionale, seiner Mission dienende Entäußerung und keine ontische, die ihn seines göttlichen Wesens und seiner präexistenten Würde beraubt hätte. Der bewusste Verzicht auf Rang, Ruhm  Ehre und die ihm zustehende Vorrangstellung vor allen Geschöpfen und Mächten, der zurückhaltende Umgang mit dem Titel "Sohn Gottes", das Nein zu abgekürzten Wegen, der Verzicht auf weltliche Machtausübung, die ihm seine Göttlichkeit ohne Zweifel ermöglicht hätte (Versuchung durch Satan in Mt 4), die bewusst gewählte Rolle des Dieners (Mk 10,45), der Verzicht auf die Legionen von Engeln (Mt 26,53), die ihn mit Leichtigkeit aus dem Leid herausgeholt hätten - all das zeigt, dass Jesus in seiner inkarnatorischen Mission auf Erden seine von den genannten Aspekten unabhängige Würde bewahrt hat.
Gerade dieses Ausloten der Extreme, der Verzicht auf die absolute Fülle des Lebens und der Gang in die begrenzte und bedrohte Welt der Menschen bis in die Tiefen des Todes hat Jesus eine ungeteilte Fülle an Ehre, Würde und universeller Anerkennung eingebracht, die unüberbietbar ist. In der Kenosis, in der von Verzicht geprägten Leere, erstrahlt der Glanz der gottmenschlichen Würde Jesu Christi. 
Jeder, ob Freund oder Feind, wird am Ende den vormals geknechteten, den würdelos behandelten, den geschundenen und ans Kreuz genagelten Jesus Christus als Herrn anerkennen, der in Würde seinen Platz auf dem Thron eingenommen haben wird. 

Die christologische sowie kreuzestheologisch begründbare Verortung der Würde in der Menschwerdung, im Leben und im Leiden Jesu bestätigt das, was wir in Bezug auf die schöpfungstheologische Begründung der Menschenwürde (... geschaffen zum Bilde Gottes; Gen 1,26) aussagen können. Die Würde ist bei Gott hinterlegt. Die Sünde des Menschen kann sie verdecken. Leid und Verlust können den Blick auf ihren Glanz verdunkeln. Doch antasten, oder gar vernichten können sie die Würde nicht - weder unsere noch die unseres Herrn Jesus Christus. Jesus hat sich stets seinem Status  als wahrer Sohn Gottes und wahrer Mensch entsprechend verhalten. Christus genießt durch seinen besondern Weg der Hingabe Rang und Namen, Dignität und Ehre. Jesus hat sich diese Anerkennung und Würde nicht im herkömmlichen Sinne verdient. Er hat sich nicht selbst erhöht. Gott höchstpersönlich bestätigt die Würde seines Sohnes und erhöht ihn im Kreuz, in der Auferstehung und in der Himmelfahrt über alle Namen.  Würdigung, die von höchster Stelle ausgeht, ist an Bedeutung nicht zu übertreffen und sehr viel mehr Wert als selbst errungene und verdienstvoll erarbeitete Ehre.

Kontemplation der Würde des Gekreuzigten 
Das Kreuz ist der Ort, wo einerseits die Würde mit Füßen getreten wird. Andererseits erhebt sie sich in dem geschundenen Körper aus dem Staub der Erniedrigung. Die Szenerie von Golgatha erschließt sich kontemplativ (anschauende Besinnung) und zeigt: Wer Jesus sehen wollte, der musste hochschauen auf das Kreuz. Selbst im Sterben ragt der zur Seite geneigte Kopf Jesu höher heraus aus dem Halbdunkel des zu Ende gehenden Tages als die Köpfe der trauernden Verwandten und Freunde sowie der Soldaten, die im Auftrag der römischen Weltmacht handelten. Als der „Aufgehängte“ überragt er alle selbsternannten Größen an würdevoller Ausstrahlung.
Jesus als wahrer Mensch und wahrer Gott unterzieht sich in seiner Menschwerdung, in seinem Leben und Wirken und auch in seinem Leiden den Herausforderungen seines geschichtlichen und kulturellen Umfeldes. Auf dieser Reise bleibt er das, was er ist – der würdevolle Jesus von Nazareth und Sohn des allmächtigen Gottes.

Beobachtungen aus der Karfreitagsliturgie
Im Gottesdienst, den wir verfolgten, wurden zwei biblische Texte in Auszügen vorgelesen: Kolosser 1 und Johannes 18-19.
Kolosser 1,15ff hilft, die Bedeutung des Leidens Jesu am Kreuz christologisch in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Die Texte aus Johannes 18-19 und der Blick in die Paralleltexte aus den anderen Evangelien helfen, die Würde Jesu im Leiden und Sterben zu erkennen.

Paulus ordnet seinen Christushymnus in Kolosser 1 dem Leiden Jesu und seinem eigenen Leiden um des Evangeliums willen zu. In diesem Kontext erscheint die würdevolle Fülle Jesu in einem noch größeren Glanz. So wie alle Menschen, ist auch Jesus „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“. Auch seine Würde ist damit bei Gott dem Schöpfer unantastbar hinterlegt. Seine Kreativität als göttlicher Mitschöpfer, seine Macht über alle Gewalten und Herrschaft spiegeln diese präexistente Würde. Bei ihm laufen die Fäden der Geschichte zusammen. Er ist Anfang und Ende. Er ist Herr der Gemeinde. Er ist der Anfang einer neuen unversehrten Welt. Er ist Versöhner von Himmel und Erde. Durch seinen sterblichen Körper, im Leid und im Tod wird er zum Wiederhersteller der durch die Sünde verschütteten und angekratzten Würde des Menschen. Kolosser 1,22 (Auch euch) hat er nun versöhnt durch seinen sterblichen Leib, durch seinen Tod, auf dass er euch heilig und makellos und untadelig vor sein Angesicht stelle". Dieses Geheimnis verkündigt Paulus auf seinen Reisen durch die Mittelmeerregion.

Beim Hören und Lesen der Texte aus Johannes 18 und 19 sind mir andere Aspekte in den Sinn gekommen, die Leiden, Kreuz, und Würde zusammenbringen.

Das aufleuchtende Momentum der souveränen Proaktivität Jesu auf seinem Leidensweg verleiht dem Leid eine geheimnisvolle Würde.
 

Als scheinbares Opfer bleibt Jesus Herr der Lage. Als scheinbar passiver, das Leid zu ertragender Mensch, bleibt er aktiv durch Worte, Gesten und vornehmlich durch seine Ausstrahlung. Er behält die Deutungshoheit, von der andere meinen, dass der an die Justiz ausgelieferte Rabbi Jesus sie schon längst eingebüsst hätte. Jesus verwehrt es den Mächtigen, Macht über ihn ausüben zu können. Das ist eine Demonstration unantastbarer Würde.

Würdevolle Gefangennahme
Der Jünger Petrus hatte zur Verteidigung Jesu sein Schwert gezückt und einem der Soldaten das Ohr abgetrennt. Jesus hatte zuvor noch mit seinem Vater gerungen, weil ihm der sich abzeichnende Weg der Folter und des Todes als nicht gangbar erschienen war. Alles schien auf Verzweiflung, Scheitern, Hoffnungslosigkeit und gewaltsame Auseinandersetzung hinauszulaufen. Doch jetzt im Moment der Gefangennahme zeigte Jesus seine würdevolle Souveränität: „Wen sucht ihr? – Ich bin es!“ – Die Soldaten fallen zu Boden. – „Wen sucht ihr? Ich habe euch doch gesagt: Ich bin es“ – Petrus, steck das Schwert weg“.
Jesus ist nicht das Opfer, das seine Festnahme passiv erleidet. Das Momentum der würdevollen Proaktivität Jesu leuchtet auf. Er lässt sich die Hände nicht aus der Haltung eines Besiegten, eines Entwürdigten binden. Er streckt sie ihnen entgegen. Fesselt, was ihr nicht fesseln könnt. Das ist Würde.

Würde im Verhör
Beim Verhör verweist Jesus souverän auf das, was schon jeder weiß, der seine Predigten verfolgt hat. Die Juden in ihren Synagogen, die Händler auf den Märkten und die Kinder auf den Straßen, alle kennen mich und meine Lehren. Hannas, Hoherpriester und Chefankläger, meint, Jesus eine Falle stellen zu können. Jesus entwischt ihm gekonnt und mit Würde, indem er die jüdische Bevölkerung als Zeugen aufruft, die Menschen also, in deren Namen die honorigen Ankläger zu sprechen glaubten. Diese Frechheit wird mit würdelosen Schlägen bestraft. Es ist eine Reaktion der Schwäche. Das juristische Spießroutenlaufen geht weiter – zu Kaiphas und später zu Pontius Pilatus. Ein würdeloses Hin und Her. Zermürbungstaktik? Eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit und der krampfhaften Suche nach brauchbaren Argumenten.
Unterdessen leugnet Petrus im Hof, Jesus zu kennen. Beschämt, mit Tränen in den Augen sucht er mit gesenktem Kopf das Weite, nachdem er einen Blick auf Jesus in seiner aufrechten Haltung vor dem Tribunal erhaschen konnte. Jesus behält Haltung und Würde, selbst dann, wenn sich Freunde entfremden.
Jesus nimmt das Leiden nicht nur in Kauf. Er nimmt es an. Er begreift es als einen inhärenten Bestandteil des Heils, das er im Abschreiten des Leidensweges für die Menschen erwirkt.
Nach menschlichen Maßstäben soll Jesus beurteilt werden. Das proaktive Momentum der Würde Jesu kommt auch hier zum Tragen: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Euer Kampf mit militärischer und juristischer Gewalt ist umsonst. „Bist du dennoch ein König“, fragte Pilatus. Jesus antwortete: "Du sagst es: Ich bin ein König, (ein Würdenträger). Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge“ (Joh 18,37).
Es folgen Geißelung, das Aufsetzen der Schmerz verursachenden Dornenkrone, Schläge ins Gesicht, trotz der selbst von Pilatus attestierten Unschuld. „Seht, welch ein Mensch!“, ein denkwürdiger Satz aus dem Munde des Pilatus. Er anerkennt insgeheim die Würde Jesu, die auch durch Folter und falsche Urteile nicht angetastet werden kann.
Die Juden fahren ihr letztes Geschütz auf: Er hat Gott gelästert. Er hat sich zu Gottes Sohn gemacht. Pilatus weiß damit nichts anzufangen. Es wird theologisch. „Woher bist Du?“, fragt er. „Antworte! – Ich habe Macht über dich!“ Wenn Leute so anfangen zu reden, haben sie längst ihre Macht verloren, ohne es bemerkt zu haben. Jesus antwortet nicht nur. Er verlässt den Modus der Passivität. „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“. Wieder dieses würdevolle Momentum der Proaktivität, das die Verhältnisse zurechtrückt.

Würde bis zum Ende
Kreuzigt ihn! – Jesus trägt sein Kreuz selbst.
Das Urteil wird vollstreckt – Jesus hängt in der Mitte.
Kleider werden zerteilt. Das Gewand bleibt als Ganzes erhalten, wie die Würde des Gekreuzigten.
Verwandte und Freunde stehen hilflos neben dem Kreuz. Der an dem Kreuz hängt, übernimmt eine aktive Rolle und verteilt familiäre Verantwortlichkeiten. „Frau, das ist dein Sohn! Jünger, das ist deine Mutter!“
Dem Sarkasmus der Vollstrecker begegnet Jesus mit der Vergebung und der Verheißung des Paradieses für reumütige Verbrecher. "Warum, mein Gott, hast du mich verlassen?", so der fragende Hilfeschrei Jesu. Es ist die notvolle Frage, die sich selbst in tiefer seelischer Bedrängnis an Gott richtet. Jesus tut weder den trauernden Freunden noch den bewaffneten Vertretern der römischen Justiz, noch seinen ihn verhöhnenden Feinden den Gefallen, sich ihnen in seiner Verzweiflung auszuliefern. Es ist eine Sache zwischen Vater und Sohn. Es ist keine distanzierte Anklage, wie wir sie sooft aus dem Mund von Menschen hören, die in tiefer Verzweiflung Gott ins Boot nehmen, obwohl sie ihn nicht als Kapitän ihres Lebens akzeptieren und ihn einen "guten Mann" sein ließen. In die Hände Gottes legt Jesus seinen Geist. Er wird ihm nicht von den Vollstreckern des Urteils genommen. Proaktiv ist Jesus, nicht passiv. Nicht der Todesstoß, nicht die Tat der Täter, sondern die letzten Worte Jesu beenden das Drama. Es ist vollbracht. Das ist beeindruckende Würde im qualvollen Tod. Der Vorhang zerreißt. Die Erde bebt. Gräber entlassen ihre Toten. Ergriffene Reaktionen: Der zu Unrecht Verurteilte war ein Gerechter. Dieser geschundene und würdelos behandelte Mensch war wirklich der Sohn Gottes! Da verschlägt es selbst den religionskritischen Satirikern und oberflächlichen Komödianten die Sprache.

Stellvertretung und erneuerte Würde
Wir bekennen, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Wir glauben, dass er stellvertretend für uns in die Bresche sprang und die Schuld der Welt auf sich nahm. Der Leidensweg Jesu und das Kreuz zeigen, dass das Leid kein wohl oder übel hinzunehmendes Phänomen ist, eine Durchgangsstation, die es auf dem Weg zum Heil zu passieren galt. Das Kreuz ist mehr als ein Symbol dafür, dass das Leid eben zum Leben dazugehört und dass ja an Ostern alles vorbei ist. Das Leid ist nicht nur Bestandteil menschlichen Lebens. Es ist Bestandteil des Heils. Ohne dieses Leid gäbe es keine wiederhergestellte, keine geheilte Beziehung zu Gott. Jesus hat im Leid seine Würde nie verloren, sie immer hochgehalten und ist so seinen unwürdigen Anklägern entwischt.

Der Aspekt der Stellvertretung bezieht sich nicht nur auf die Übernahme der Schuld und auf die Schwere der Strafe: Er wurde verurteilt, wir wurden es nicht. Er litt, wir mussten es nicht.
Auch die Menschenwürde wurde stellvertretend von Jesus erneuert. Jesus verlor auf seinem Leidensweg nie die Selbstbestimmung. Jesu proaktives Ringen um die Würde im Leid kompensiert den Verlust im Kontext menschlicher Schicksale. Deshalb sind wir im Moment des Verlusts unserer eigenen Autonomie bei Jesus geborgen und für würdevoll und wertvoll erachtet. Er vertritt unsere Würde und hält sie hoch. Jesus hat die durch den Beziehungsbruch in Mitleidenschaft gezogene Würde des Menschen vor Gott mitten im Leid wieder hergestellt - die verurteilte, von Menschen mit sarkastischen Worten abgesprochene und mit Peitschenhieben geschlagene Würde. Wer diesen Reichtum erfassen will, der darf dem Kreuz nicht mit gesenktem Blick begegnen. Dann wird er den Glanz des Gekreuzigten nicht erfassen. Der aufschauende Blick ermöglicht es uns, die Kreuzigung als Erhöhung und als würdevollen Moment zu begreifen.

Nachdenken über den Kreuzweg Jesu, das ist Medizin für meinen Geist und Hilfe für unseren von Arbeit, Demenz und Pflege geprägten Alltag.

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