Das Unplanbare mit Würde umarmen wie einen fremden Gast - Nutzen. Wert. Menschenwürde.

Jeder Mensch ist von Nutzen. Jeder Mensch hat einen Wert. Jeder Mensch hat eine Würde. An dieser Feststellung ändert sich auch dann nichts, wenn das Leben nicht glatt verläuft, wenn Krankheiten und damit einhergehende Einschränkungen den Zug des Lebens ausbremsen oder ihn aus seiner Bahn zu schleudern drohen. Nutzen, Wert und Würde werden in Gesprächen und Artikeln gleichermaßen benutzt, aber sie sind nicht gleichwertig in ihrer Bedeutung. Es sind keine Synonyme, keine austauschbaren Begriffe. Unter Nutzen wird meist der konkrete, Wirkung hinterlassende und Mehrwert schaffende Beitrag verstanden, den ein Mensch einbringt. Der Wert ergibt sich oft aus der Selbst- und Fremdeinschätzung (Selbstwertgefühl, Wertschätzung), der sich aus dem nützlichen Beitrag und der Rolle innerhalb der Gesellschaft ergibt. Ergänzend dazu wird von anderen der Wert des Menschen als eine Fähigkeit betrachtet, übergeordnete Werte wie Gerechtigkeit, Respekt oder Treue vorzuleben. Würde wird im Zusammenhang mit einem bestimmten Rang oder als unantastbare Ehre des Menschen (Menschenwürde) beschrieben, als absolute Wertigkeit, die es zu schützen gilt. Die Einordnung und Zuordnung der Begriffe im Kontext von Einschränkung und Verlust führt zu einem Verständnis von Nutzen, Wert und Würde, das aus der einseitigen Ökonomisierung, Individualisierung und weltimmanenten Betrachtungsweise befreit.

Das Verständnis vom wahren Nutzen und Wert eines Menschen für sich selbst und für seine Umgebung erschließt sich für mich aus der Verortung der Würde, die mir als Mensch von außen, von einer höheren Instanz, von Gott zugesprochen wird. Die Würde ist daher dem Nutzen und dem Wert des Menschen übergeordnet und hilft, die Einseitigkeiten bei der Beschreibung von Nutzen und Wert zu relativieren.

Meine an Demenz erkrankte Frau zwingt uns als Familie und alle, die unseren Weg begleiten, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Eine unheilbare Krankheit in das Leben einzuordnen, ohne an ihm zu verzweifeln, erfordert, sich einer Aufgabe zu stellen, die es in sich hat. Die gedankliche Auseinandersetzung verhilft zu Klarheit und wird damit zur Stütze. Klare Gedanken retten vor dem Verzweifeln und dem unnötigen Hadern. Um es vorwegzunehmen: Leid und das Ringen um eine Antwort auf die Frage, wie Leid eingeordnet und erklärt werden kann – dieser emotional aufgeladene Lern- und Denkprozess macht das Leben reicher, nicht ärmer. Die Einschränkungen, die es einerseits hinzunehmen gilt, werden durch einen differenzierten Blick auf das Menschsein an anderer Stelle kompensiert. Das Leben wird enger, aber auch tiefer. Freiheiten werden eingeschränkt, und dennoch weitet sich der Horizont. Die Seele ist betrübt, und dennoch tankt sie Weite. Die Tränen fließen, und aus ihnen entsteht eine andersgelagerte Freude und neues Glück. Verlieren und Gewinnen. Alles so paradox und ambivalent – dialektisch, um es philosophisch zu sagen. Es gilt, das Leben in Gegensätzen zu denken. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Wer den Reichtum des JA auskosten möchte, der muss das NEIN durchbuchstabieren. Aus dieser Auseinandersetzung erwächst ein MEHR an Leben mit Profil.

Die Erklärungen, die sich darum bemühen, den Nutzen, Wert und die Würde menschlichen Lebens zu beschreiben, sind höchst aktuell, aber zum großen Teil auch sehr defizitär und wenig hilfreich.
Ich sehe vorwiegend drei Aspekte in der Debatte, die mir, wie schon angedeutet, zu eingeschränkt und einseitig erscheinen:

Die Ökonomisierung und Materialisierung des Menschen

Es geht hier um die Messbarkeit des im weitesten Sinne materialisierten Nutzens eines Menschen für die Gesellschaft. Wie kompetent bin ich? Wie viel bringe ich ein? Wie viel bleibt übrig, wenn ich gehe?
Im Jahre 2004 wurde das Wort „Humankapital“ als Unwort des Jahres gekürt. Der Zynismus, was die materialistische Bewertung menschlichen Lebens angeht, wird in Statements und Handlungen sichtbar. Kenneth Feinberg wurde im Anschluss an die Anschläge vom 11. September 2001 von der Bush-Administration damit beauftragt, den Entschädigungsfond an die Angehörigen der Opfer zu verteilen. Die Interviews mit den Betroffenen kamen zu dem Ergebnis, dass im Moment des Todes jeder Mensch aufgrund des erlittenen Schicksals gleich viel wert ist und die Anschläge als gleichwertig vernichtend empfunden wurden. Wie sollte es auch anders sein? Die Wucht der Katastrophe hatte alle auf den gleichen Boden geschleudert und mit dem Staub des Todes bedeckt. Das galt aber nur in diesem Moment. Vorher und nachher wurde der Mensch bewertet und materialisiert. Bei den Entschädigungszahlungen an die Opferfamilien wurden die Einkommen der Opfer herangezogen. Die Familie eines zu Tode gekommenen Kellners, der in einem der eingestürzten Wolkenkratzer arbeitete, betrug 500.000 Dollar. Die Familie eines getöteten Börsenmaklers erhielt 2 Millionen Dollar. Bereits im 18. Jahrhundert wurden an der Wall-Street, wo heute Aktien gehandelt werden, Sklaven in Reih und Glied an die Wand gestellt. Ihr Wert wurde in harter Währung je nach wirtschaftlichem Nutzen festgelegt, und die Sklaven wurden an die Händler verkauft. Ein männlicher Sklave war für 1.000 Dollar zu haben. Herbert Marcuse prägte in den 1960er Jahren den Begriff des „eindimensionalen Menschen“ und stieß damit eine kapitalismuskritische Debatte an. Für den Staat sind Menschen nicht nur Menschen oder Bürger. Sie sind Kapital, das die menschliche Gesellschaft am Leben erhält, als Produzenten von Waren und Nachwuchs und als Steuerzahler und Konsumenten, die das kapitalistische Rad am Laufen halten. Für Arbeitgeber sind Menschen in erster Linie Arbeitskräfte. „Der Wertbegriff“, so Marcuse, „hat sein moralisches und sein ethisches Profil verloren und wird primär auf quantifizierbare Gegenstände bezogen.“

Die Ökonomisierung des Menschen hat eine lange Tradition. Dabei geht es nicht nur um den finanziellen Nutzen. Der Wert des Menschen kann auch anders materialisiert werden. Und hier kommt die Demenz wieder mit ins Boot. Wir sprechen vom ErinnerungsVERMÖGEN. Damit ist einerseits die Fähigkeit des Erinnerns an sich gemeint. Doch der Begriff hat einen materialistischen Unterton. Wer sich an viele Dinge in seinem Leben erinnern kann, der hat ein größeres Vermögen, eine gefüllte Schatztruhe an Gedanken und damit einen höheren Stellenwert als derjenige, dem dieses Vermögen durch Krankheit abhandengekommen ist. Da schwerstbehinderte Neugeborene, sowie alte und kranke Menschen ohne Aussicht auf Genesung keinen Nutzen für die Gesellschaft darstellen, zweifeln manche Zeitgenossen, ob es sich lohne, das Leben solcher Menschen zu erhalten und ein würdiges Lebensumfeld zu gestalten. Bei diesen Menschen handelt es sich nicht um Nazis, sondern um Zeitgenossen, die für sich einen aufgeklärten, philosophischen Horizont beanspruchen. Worin besteht der Nutzen von Menschen, die sich nicht mehr aktiv einbringen können, die sich nicht mehr erinnern und ihre Erfahrungen in Worte fassen, also materialisieren und anderen weitergeben können, weil die Degeneration der kognitiven Fähigkeiten dies nicht mehr erlaubt? Haben diese Menschen ihren Wert verloren? Ist ihre Würde defizitär und beschädigt? Die Gefahr der Materialisierung als einer beschränkten Denkkategorie lauert als Stolperstein auf den Pfaden unserer Gedanken. „Was einen Wert hat, hat auch einen Preis“, so Immanuel Kant, „der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.“

Die Individualisierung des Menschen

Eine zweite Einseitigkeit sehe ich in der Autonomie und Individualisierung des Menschen. Die Aufklärung hat uns die Autonomie des individuellen Menschen nähergebracht. Damit hat sie sich gewehrt gegen Bevormundung und eine kollektive Vereinnahmung durch Staat und Kirche, was aus den geschichtlichen Erfahrungen verständlich ist. In der Pädagogik und auch im Pflegemanagement von kranken Menschen spielt das Konzept der Selbstbestimmung eine große Rolle. Kinder sollen lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Kranke Menschen sollen soweit es geht, selbstbestimmt leben. Das sind lobenswerte Ziele. In Wirklichkeit aber wird so das Menschsein auf das Selbst und die Individualität reduziert. Was passiert, wenn kranke Menschen die Fähigkeit der Selbstbestimmung und der Autonomie verlieren? Wer hindert das auto (Selbst, das Eigene) an der Kollision, wenn das Bewusstsein für den nomos (Gesetz, Standhaftigkeit) verloren gegangen ist? Was geschieht, wenn dieses Selbst im Nebel des Vergessens verschwindet und von pflegenden Angehörigen auf der Grundlage von Vollmachten am Leben erhalten werden muss? Spätestens an diesem extremen Punkt menschlichen Lebens merken wir, dass die Individualität als wesentliches Gut menschlicher Existenz zu kurz greift. Es gibt die Grenzerfahrungen des Lebens und des Leidens, wo das soziale Netz kollektiver Solidarität zum tragenden Element wird und der andere mein Selbst auffängt. Worin besteht der Wert eines Menschen, der sich seines Selbst und seiner Individualität nicht mehr bewusst ist und sich in einer Situation wiederfindet, wo er fremdbestimmt wird? Sind sein Nutzen, sein Wert und seine Würde damit verloren?

Die Immanenz menschlicher Existenz

Eine weitere Gefahr, der Komplexität menschlicher Würde nicht genüge zu tun, besteht in der Reduzierung der Existenz auf die immanenten, d.h. die weltinternen Bezüge. Wenn der Nutzen, der Wert und die Würde eines Menschen nur im Horizont geschichtlich biographischer Erfahrungen definiert wird, dann ist das Defizit vorhersehbar. Würde und Wert haben im Althochdeutschen die gleiche Wurzel – wirdî. Gedacht wird an den Rang, die Ehre, das Verdienst oder das Ansehen einer einzelnen Person. Diese Interpretation hat sich durchgesetzt. Wir würdigen Personen wegen ihres hohen Rangs und wegen der Verdienste, die sie sich im Engagement für die Gesellschaft erworben haben. Könige und Bischöfe werden als Hochwürden hochstilisiert. Auch der Begriff der Menschenwürde bleibt diesem Denken verhaftet, wenn dadurch der besondere Wert des Menschen und seine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Lebewesen herausgestellt wird.
Wenn jedoch allein soziologische, philosophische oder rationale Denkschemata als Grundlage für die Definition herangezogen werden, dann bleibt das, was die Würde des Menschen eigentlich ausmacht, verborgen. Wenn Würde lediglich eine universale Eigenschaft ist, die im Völkerrecht, in Verfassungen oder in richterlichen Verlautbarungen verankert ist, dann bleibt sie im Immanenten gefangen. Würde wird von Menschen definiert und durch Menschenrechte flankiert, die wiederrum von Menschen formuliert und abgesichert werden. Seit der Aufklärung wird der soziologische Rahmen erweitert. Würde wird zu einem abstrakten moralischen Wert, aus dem eine besondere Qualität der Handlung und der Verantwortung abgeleitet wird. Würde wird definiert als der „absolute Wert“ oder der „innere Wert“ eines Menschen (Menschheit in Person, so Kant). Es ist die innere Ehre, die die Würde des Menschen ausmacht. Würde ist ein Wesensmerkmal, das dem Menschen innewohnt. Albert Schweitzer vertrat eine explizite „Ethik des Lebens“, die ihn in seiner Tätigkeit als Missionsarzt in Lambarene motiviert hat: „Es braucht keine andere Lebens- und Weltkenntnis mehr als die, dass alles, was ist, Leben ist, und dass wir allem, was ist, als Leben, als einem höchsten unersetzlichen Wert, Ehrfurcht entgegenbringen müssen.“

J. Hellegouarc hat im Jahre 1963 in einer Untersuchung zur Etymologie lateinischer Begriffe bei Cicero (röm. Philosoph der Stoa) darauf hingewiesen, dass Würde dem lateinischen Wort dignitas entspricht. Die ursprüngliche Bedeutung bezieht sich dabei nicht auf die später dominierende Wortkette Ehrerbietung, Rang, Wert, Verdienst, Anerkennung. Dignitas kann am ehesten mit „Angemessenheit, Eigenart, Charakter“ wiedergegeben werden, eine Interpretation, die sich leider nicht durchgesetzt hat. Ein Mensch spiegelt die menschliche Würde durch die angemessene Wiedergabe der im Menschsein innewohnenden Eigenschaften, Bestimmung und Eigenart seines Charakters. Angemessenheit (convenance) entspricht m.E. am ehesten dem Begriff des Menschen als Ebenbild Gottes (Entsprechung). Der Mensch erhält seine Dignität durch das, was Gott in ihm als Gegenüber sieht (absolute Würde) und nicht durch das, was er sich an Anerkennung, ideellem oder materiellem Vermögen oder an gesellschaftlicher Stellung erwirbt (relativer Wert). Würde wird so zum Spiegel des Charakters und somit nicht auf eine wertvolle Stellung reduziert. Ausgerechnet in der Medizin spricht man heute noch von der Dignität von Tumoren, wenn der Charakter, d.h. die Gut- oder Bösartigkeit des Tumors, gekennzeichnet werden soll.
Ein Mensch, dessen Fähigkeiten degenerieren, dessen Erinnerungsvermögen nachlässt, behält dennoch seine Dignität, seinen dem Menschsein entsprechenden Charakter, der in seiner Gottesebenbildlichkeit verankert ist. Die Persönlichkeit eines an Demenz erkrankten Menschen verändert sich, aber er verliert damit nicht das Wesen und den Grund seines Menschseins.
Was sagt eigentlich der Grundsatz aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar?“ Bedeutet der Satz lediglich, dass die Würde eines Menschen nicht mit Füßen getreten und nicht angetastet werden darf? Es gibt Menschen, die ihre Mitmenschen würdelos behandeln, obwohl sie es nicht dürfen. Doch die Frage ist, ob die von Bosheit Getriebenen damit seine Würde zerstören können. Wenn die Menschenwürde im absoluten Sinn unantastbar ist, dann ist sie un-antastbar. Selbst wenn ich sie antasten, vernichten, herabwürdigen oder schädigen wollte, würde mir das nicht gelingen. Selbst wenn ich einen Menschen würdelos behandele, würde er damit seine Würde nicht los. Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch wertvoll ist, weil er Mensch ist. Seine Würde ist unantastbar. Wenn sie aber unantastbar ist, dann muss die Würde etwas sein, was außerhalb menschlicher Erfahrungen und Logik und außerhalb der Immanenz dieser Welt ihren Grund hat. Die Bibel bietet uns die Perspektive, den Menschen als „Ebenbild Gottes“ zu erkennen, dem besondere Ehre und Verantwortung zuteilwird. In der Schöpfungsgeschichte werden Mann und Frau als Ebenbild Gottes erschaffen (Gen 1,26f). Sie verdanken ihre Existenz der "wesensmäßigen Angemessenheit" im Verhältnis zum Schöpfer. Sie leben, und noch bevor sie Erfahrungen machen und sich daran erinnern können, oder sich als Kultur schaffende Wesen nützlich machen und Wertschätzung ernten können, noch bevor sie sich ihrer Würde bewusst werden, sind sie das, was sie sind – Ebenbilder Gottes, mit einer aus der Kreativität Gottes herauskristallisierten Ehre und Wertigkeit versehen. Die Weltverantwortung und das Kulturschaffen (… walten über Fische, Vögel, das Vieh und die Erde …) sind eine konkrete Folge, eine Auswirkung dieser Ebenbildlichkeit und nicht ihr wesentlicher Bestandteil. In Psalm 8 ist zu lesen: „6 Du hast ihn (den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit (hebr. hadar: Pracht, bedeutsame Stellung) hast du ihn gekrönt. 7 Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.“

Der Mensch verdankt seine Ehre und Würde der Stellung, die ihm von Gott zugedacht wurde. Er ist dem Schöpfer untergeordnet und der übrigen Schöpfung vorgeordnet. Daraus erwächst Ehrfurcht und Verantwortung.
Jeder Mensch bleibt, auch in „würdelosen“ Situationen, in Phasen, wo er Nutzen und Wert für die Gesellschaft zu verlieren scheint, immer noch ein Ebenbild Gottes. Ehre und Würde bleiben erhalten, auch wenn ich längst nicht mehr die Fische im Meer zählen und das Unkraut im Gemüsebeet jäten kann. Die Dignität des Menschen, seine Würde, verdankt ihre Stabilität und Unantastbarkeit dem Willen des Schöpfers. Sie ist bei Gott hinterlegt und ist nicht von sichtbaren Errungenschaften und Wertschätzungen abhängig - so wie das Gold, das seinen Wert behält, auch wenn das entsprechende Zertifikat verschlissen ist. Damit ist das, was die Würde des Menschen ausmacht, zwar innerhalb von Raum und Zeit definierbar und sichtbar, doch begründbar ist sie nur durch die Existenz Gottes, der nicht der Vergänglichkeit unterworfen ist. Gottes Geist, als Schöpfer und Heiliger Geist, wirkt in der Gebrochenheit menschlichen Lebens weiter. Die Würde und Ebenbildlichkeit Gottes ist auch im Leid, in der Prekarität und im durch Krankheiten ausgelösten Defizit noch gegenwärtig, weil die Würde des Menschen nicht an Leistung, Erinnerungsvermögen und nicht an die Bewusstmachung des eigenen Wertes gekoppelt ist. In der Gebrochenheit erstrahlt der Glanz menschlicher Würde. Gott allein erteilt, verteidigt und erhält die Würde des Menschen mitten in krankheitsbedingten Einschränkungen. Der Blick auf das Kreuz Jesu Christi zeigt, dass gerade im Leid, in der Erniedrigung und der Herabwürdigung die heilvolle Würde aufleuchtet, die inspiriert und zum Aufschauen einlädt.

Persönlich …

War das jetzt alles nur theoretisches Geplänkel? Nicht für mich. Das Jonglieren mit den Wörtern, das Nachsinnen über Debatten, Verlautbarungen und auch über verbale, verletzende Entgleisungen einiger Zeitgenossen hilft mir, einen klaren Blick zu gewinnen und eine Matrix zu schaffen, in die ich Gedanken und Emotionen verorten kann. Die Würde des Menschen ist wegen ihrer Verortung in der Transzendenz bei Gott den Begriffen Nutzen und Wert kategorisch übergeordnet. Weil das so ist, kann ich Nutzen und Wert anders füllen, Einseitigkeiten entschärfen und den Begriffen eine andere Qualität beimessen. Der Mensch hat einen ideellen Nutzen, keinen einseitig ökonomischen. Der Wert des Menschen hängt nicht einseitig von der Wertschätzung anderer oder meiner Selbsteinschätzung (Bewertung) ab, die sich auf den Beitrag für die Gesellschaft beziehen und auch nicht von der Schärfe des Bildes, das übergeordnete Werte spiegelt. Die Würde des Menschen ist nicht nur ein zu schützendes übergeordnetes Gut, sondern wird angesehen als die bei Gott hinterlegte, angemessene und der Gottesebenbildlichkeit entsprechende Ehre.

Wenn ich in die Augen meiner Frau schaue, spiegelt sich darin trotz ihrer Demenzerkrankung etwas Nützliches, etwas Wertvolles, etwas Würdevolles. Ihre Sätze sind unvollendet und zerbrechen im Chaos der Degeneration. Ihr Beitrag scheint nutzlos und wertlos und keines Lohns wert zu sein. Doch ihre Augen, die Falten der Hände und der Finger, der ihren Ehering trägt, spiegeln die gemeinsame Vergangenheit, die Mühen und die Wirkung ihres verantwortlichen Handelns, den Reichtum der Erinnerungen, der Erfahrungen und den Wert des Lebens. Der ideelle, ihrer Würde entsprechende Nutzen liegt in ihrer Ausstrahlung und darin, dass mir bewusst wird, wie reich unser gemeinsames Leben ist. Die Erinnerung an ihr Leben strahlt Reichtum aus, nicht quantifizierbar und dennoch mehr wert als alles Silber und Gold der Welt. Der Nutzen und Wert ihres Lebens bleiben so präsent, weil sie nicht an ihr individuelles Erinnerungsvermögen gebunden sind. Dieser Reichtum erstrahlt wie eine Kerze in einem dunklen Raum. Ihr Schein wirkt heller als in einer Umgebung, die die Schwärze der Dunkelheit nicht kennt. In ihren Augen entdecke ich die Gesichter unserer Kinder und den starken Zusammenschluss der gemeinsam gegründeten Familie. Ich sehe darin die Werte ihrer Treue und Hingabe. Manchmal wirken diese Augen gläsern und starr, weil die Medikamente sie ermüden lassen. Dennoch sehe ich in ihnen die Spuren die sie gezogen und hinterlassen hat. Die Menschen, denen sie ein Vorbild war, defilieren vor meinem geistigen Auge. Ihr selten gewordenes, spontanes Lachen spiegelt die Lebensfreude, die so oft unsere Räume durchflutet hat. Das ist sowas von wertvoll, nützlich und aller Ehren wert – mitten im Magnetfeld der Einschränkung und dem Auf und Ab der Gefühle. Sie muss und kann nichts mehr leisten. Sie hat keinen Rang mehr im Gefüge menschlicher Strukturen. Sie ist zum Wesentlichen zurückgekehrt, zum freien Menschsein, das sich der Materialisierung, dem Kampf um das „besondere Selbst“ und dem Druck weltimmanenter Begrenztheit entzieht. Sie hat immer noch ihren Nutzen, ihren Wert und ihre Würde; sie muss nicht mehr dafür kämpfen, sich rechtfertigen oder sie verteidigen. Ihre gottesebenbildliche Angemessenheit und Eigenart hinterlassen immer noch einen würdevollen Eindruck. Die bei Gott hinterlegte Würde bestimmt die Art und Weise, wie wir Nutzen und den Wert des Menschen umschreiben.

Kommentare

  1. Antworten
    1. Anonym20:35

      Lieber Alfred mit Tränen der Rührung und Dankbarkeit habe ich deine wunderbaren Worte gelesen! Be blessed ! Stefan Nix

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  2. Anonym16:46

    Danke für deine Gedanken! Ich denke an Euch!

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  3. Anonym19:08

    Vielen Dank für diese Gedanken, Schlussfolgerungen, Betrachtungen. Kann ich voll und ganz nachvollziehen. Äußerst klug und intellektuell, und doch so eine einfache Wahrheit, für jeden verständlich und lebbar. Auf dieser Ebene kann ich jedem Menschen begegnen und mich auch selber voll und ganz annehmen

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    1. Anonym09:55

      Danke Alfred für deinen Hinweis auf das Wesentliche im Menschen! Dieser Satz hat es auf den Punkt gebracht: "Die Würde des Menschen ist nicht nur ein zu schützendes übergeordnetes Gut, sondern wird angesehen als die bei Gott hinterlegte, angemessene und der Gottesebenbildlichkeit entsprechende Ehre." Besonderen Dank für dein Teilen über "Persönliches"! Gott schenke Dir/Euch Kraft in den schwierigen Momenten und lasse Euch weitere Schönheiten im Leben mit Christiane entdecken! Albert G.

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    2. Ingo17:07

      Wow. Sehr berührend. Danke für diese wertvollen Gedanken!

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  4. Anonym16:13

    Lieber Alfred, ein Zitat von Karl Barth, Kirchliche Dogmatik: "die Gottebenbildlichkeit besteht „nicht in
    irgendetwas, was der Mensch ist oder tut“ – vielmehr ist der Mensch Gottes
    Ebenbild allein schon dadurch, indem er als Mensch „Gottes Gegenüber“ ist. - Wie gut, dass uns dieser Wert von niemandem genommen werden kann. Ich bete darum und wünsche euch, dass ihr neben all dem Belastenden und dem Hinterfragen und all den Zeiten, an denen ihr auch an eure Grenzen kommt, immer wieder gute Begebenheiten, Lichtblicke und schöne Momente erlebt. Und ich wünsche uns, dass wir es lernen, das Wesentliche durch Gottes Augen zu sehen. Doris

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