Das Geburtstagskind und der Rassismus


... ein philosophiegeschichtlicher Einschub aus aktuellem Anlass.

Glückwunsch - es ist bemerkenswert, dass sich Denker auf der ganzen Welt noch immer auf einen Mann berufen, der im 18. Jahrhundert philosophisch gearbeitet und Generationen nach ihm nachhaltig beeinflusst hat. Die Rede ist von Immanuel Kant (1724-1804), dem großen Philosophen aus Königsberg (heute Kaliningrad).

Im Zuge der Rassismus-Debatte der letzten Jahre ist in zahlreichen Beiträgen, Foren und Konferenzen immer wieder die Frage gestellt worden: War Kant ein Rassist? Müssen wir ihn, den großen Kant, vom Sockel holen? - Manche sagen, seine Äußerungen zu den Rassen seien persönliche, vorkritische Bemerkungen gewesen, Randnotizen, und hätten nichts mit seiner eigentlichen Philosophie zu tun. Manfred Geier, Germanist und Kantkenner vertritt diese These. Andere hinterfragen dies und sind der Meinung, dass man bei einem Philosophen persönliche Meinung und philosophisches Konzept nicht voneinander trennen kann. Eine ziemlich ambivalente Geschichte also. Pauline Kleingeld bezeichnet Kant als einen „inkonsistenten Universalisten“, der sich in der Frage nach der Bedeutung menschlicher Rassen im Laufe seines Wirkens widersprüchlich geäußert hat. Man könnte sagen, dass Kant am Ende Rassismus und damit einhergehende Praktiken wie Sklaverei und Kolonialismus verneinte, sich auf dem Weg dorthin aber hier und da "verdacht" hat. 

1755

In der Tat hat der gefeierte Immanuel Kant, jener deutsche Vorzeigephilosoph, dessen 300. Geburtstag wir am 22. April 2024 feiern, sich in der Frühzeit seines Schaffens (1755-1764) rassistisch geäußert oder sagen wir genauer: er hat sich Menschen nicht europäischer Herkunft gegenüber herabwürdigend, abfällig und negativ kategorisierend geäußert, so z. B. in seinen Privatvorlesungen zur „Physischen Geografie" (1755). „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ 

Das entscheidende Kriterium für Kant war die Bildungsfähigkeit aufgrund klimatischer Bedingungen, eine Bewertung, die er von Montesquieu übernommen hatte. Bei dem genannten Zitat handelt es sich jedoch möglicherweise um eine Hörermitschrift eines Studenten. Die Genauigkeit kann nicht mehr genau rekonstruiert werden, und es kann gut sein, dass Kant hier jemand anderen zitiert. Die Vorlesungen zur Physischen Geografie hat Kant von 1755 bis 1796 gehalten und Inhalte immer wieder angepasst, so wie im akademischen Betrieb üblich.

1764

In der gleichen Zeit äußerte sich Kant in den "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) über die Menschen dunkler Hautfarbe folgendermaßen: "dieser Kerl war vom Kopf bis zum Fuss ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, dass dass, was er sagte, dumm war". Für Kant sind die physischen Eigenschaften nicht nur äußerlich, sondern entsprechen der Natur und sind daher dauerhaft. Daraus schließt Kant in einer Notiz: "Der Neger kann disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisiert werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit. Amerikaner und Neger können sich nicht selbstregiren. Dienen also nur zu Sclaven".

1788

Zwischenzeitlich hatte sich Kant ganz von einer Bewertung der Rassen verabschiedet und sich auf eine Deskription der physiologischen Unterschiede beschränkt. Doch in seiner Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (1788) hat der den Begriff der "Rasse" wieder aufgenommen, ihn erkenntnistheoretisch untermauert und eine revidierte rassistische Werteskala aufgestellt. "Die sogenannten «creolischen Neger» etwa, vertrieben aus ihrer Heimat, würden es auf dem neuen Boden (als ehemalige Sklaven) an einem «Trieb zur Tätigkeit» fehlen lassen. Andere Rassen beziehungsweise Völker wie die Nordamerikaner wiederum hätten sich vor der endgültigen Herausbildung auf Wanderschaft begeben, weshalb nun «diese Race, zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige und unfähig zu aller Cultur, wozu sich doch in der Naheit Beispiel und Aufmunterung genug findet, noch tief unter dem Neger selbst steht, welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt, die wir als Racenverschiedenheiten genannt haben». (zit. D. Schönecker in nzz.ch, vom 16.04.2021)

Gegen die hierarchisierende Einordnung haben sich Kritiker schon damals ausgesprochen. Georg Foster, ein deutscher Ethnologe und vielgereister Wissenschaftlicher aus dem 18. Jahrhundert, war einer von ihnen. Er verurteilte die, aus seiner Sicht überkommene theologische These, in gut aufklärerischer theologiekritischer Manier, dass alle Menschen einen gemeinsamen monogenetischen Ursprung hätten. Selbst wenn dem so wäre, so Forster weiter, "lassen Sie mich vielmehr fragen, ob der Gedanke, dass die Schwarzen unsere Brüder sind, jemals die Peitsche des Sklaventreibers zum Fallen gebracht hat?" (zit. Daniel P. Zorn, public-history-weekly.de, 21.8.20)

Aber besonders hat sich Foster über die Selbstherrlichkeit von Immanuel Kant aufgeregt, der nie aus dem verschlafenen Königsberg hinausgekommen sei und sich anmaßte, über die Merkmale anderer Menschen zu dozieren. Damit würde er sich in Dinge einmischen, von denen er nichts verstehe (Lieder, philomag.de 2.1.2021).

1790

Marianne Lieder verweist in ihrem Essai zu Kant auf die niederländische Kant-Expertin Pauline Kleingeld und deren viel beachteten Aufsatz „Kant’s Seconds Thoughts on Race“ (2007), in dem sie unter anderem zeigte, dass Kant es ab ca. 1790 aufgab, nach Hautfarbe zu bewerten. Der Begriff „Rasse“ taucht zwar weiterhin auf, jedoch gab es keine moralische oder intellektuelle Stufenleiter mehr. Alle Menschen sind in ihrer Würde gleich. Aber, sind sie auch gleichwertig?

Das Problem ist, dass Kant den gesellschaftlichen Fortschritt und damit die praktische Wertigkeit des Menschen an die Vernunft und die individuelle Willensfreiheit gekoppelt hat, so der Philosoph Marcus Willaschek in einem Interview am 4.1.2021 (cf. aktuelles.uni-frankfurt.de). In seinen Äußerungen zum "moralischen Universalismus", entwickelt in seinen zwischen 1785 bis 1790 erschienen Hauptwerken, hat er die allgemeine Menschenwürde und die gleichen Rechte aller Menschen nicht an der Spezies Mensch an sich festgemacht, sondern an autonomes, logisches Denken (Vernunft) und Willensfreiheit geknüpft – als europäische Errungenschaften wohlgemerkt. Kleinkinder, an Demenz Erkrankte und Menschen ohne "aufgeklärte Bildung" haben bei diesem Konzept schlechte Chancen. Wer bestimmt das eigentlich, dass etwas vernünftig und der Wille stark genug ist, um „Höheres“ zu bewirken?

1795

Kant sprach in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" 1795 vom Weltbürgerrecht aller Menschen, von der Fähigkeit zu Vernunft und Moral aller Menschen und verurteile Kolonialismus und Sklaverei. Er distanzierte sich von der Hierarchisierung der Menschenrassen. 

Schlussfolgerungen ...

Selbst wenn man verneint, dass Kant letztlich ein Rassist gewesen sei, muss man der Tatsache in die Augen schauen, dass trotz allem das ambivalente rassistische Gedankengut seine Kreise zog und die Volksmeinung beeinflusste. Unter anderen waren es Kants Äußerungen, die den späteren Rassisten den Nährboden bereiteten. Ausgehend von physiologischen Unterschieden wurde auf kulturelle Errungenschaften, unveränderbare Merkmale hinsichtlich der Mentalität und des Charakters geschlossen. Der Charakter von Indios und Afrikaner wurde im Zuge des späteren Sozialdarwinismus als minderwertig und unterentwickelt angesehen, von wo aus sich die Notwendigkeit westlicher Intervention und der zivilisatorischen Transformation des globalen Südens ableitete. 

Stefan Gosepath, Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin, glaubt, dass Hegel und Kant rassistische Vorurteil vertraten und schließt daher: "Die Vertreter der Aufklärung sind nicht unschuldig.“ (zit. Deutschlandfunk, Stefan Gosepath im Gespräch mit Gabi Wuttke, 16.06.2020).

Anke Graneß von der Uni Hildesheim verweißt auf den 2007 verstorbenen nigerianischen Philosophen Emmanuel Chukwudi Eze, der Kant stark kritisiert hatte. Doch in seinem Aufsatz „The Color of Reason“ plädiert er dafür, "mit Kant gegen Kant“ zu argumentieren und die rassistischen Spuren im europäischen Denken zu entlarven. 

Hätte Kant sich zeit seines Lebens aus seinem geliebten Königsberg auf Weltreise begeben und die Begegnung gesucht, wie ein Alexander von Humboldt oder andere, dann hätte ihn die Empirie der persönlichen Begegnungen von vorneherein eines Besseren belehrt. Er hätte nicht über Charaktereigenschaften und mangelnde Willenskraft bei nichteuropäischen Völkern abwertend und später relativierend mutmaßen müssen.
Humboldt hat auf seinen Reisen die Sklaverei in Lateinamerika hautnah erlebt und sich dazu stets und sehr zum Unmut des damaligen spanischen Königshauses kritisch geäußert. Das Beispiel zeigt, dass selbst die schärfste und tiefgründigste rationale Reflexion, die reine Vernunft à la Kant nicht ausreicht und dass konkrete Begegnungen mit Menschen in deren Lebensumständen eher dazu geeignet sind, uns vor Vorurteilen und rassistischen Einordnungen zu bewahren. 

Mir scheint, dass das Denken der Aufklärung bei allen Errungenschaften nicht nur Autonomie und Individualität gefördert hat, sondern gleichzeitig durch seinen fast neurotischen Zwang zur rationalen Abstraktion und Kategorisierung enzyklopädischen Wissens auch unfrei macht und dadurch der chaotischen Realität und Gleichzeitigkeit von Phänomenen nicht mehr gerecht wird. 

Valentin-Yves Mudimbe, ein kongolesischer Schriftsteller und Philosoph, hat in seinem Buch "The invention of Africa" (Die Erfindung Afrikas) aus dem Jahre 1988 darauf aufmerksam gemacht, dass die perspektivische Berichterstattung und die aufklärerische Kategorisierung der Welt ein Bild von Afrika gezeichnet hat, die es so nicht gibt. Es waren westliche Kategorien, westliche Bewertungen basierend auf Theorien und Ideologien, die in westlichen Universitäten entstanden sind. Die perspektivische, eurozentristische und damit einseitige Deskription des Anderen, also der anderen "Rassen" und Völker verfestigt sich zu einer Kategorie des Wissens. Dieses Wissen ist Macht und begründete u.a. auch kolonialistische Machtstrukturen. Das Monopol dieses "einseitigen Pseudowissens" gilt es zu brechen. Dies gelingt aber nur in der empirischen Beobachtung und Begegnung, die die Vielseitigkeit der Sichtweisen zulässt.

In Mali werden übrigens starke Willenskraft und an die Kultur angepasstes vernünftiges, pragmatisches Handeln kombiniert und sichern das Überleben – ganz in den Kategorien von Immanuel Kant, wenn auch anders als im europäischen Westen.


Bildquelle: wikipedia

Kommentare

Unser Partner

Schule in Sabalibougou

SPENDENFORMULAR

Spendenkonto

Spar- und Kreditbank Witten

IBAN: DE86452604750009110900
BIC: GENODEM1BFG

Zweck: Meier - Mali