Mali | Muslime attackieren Muslime – wieso?
Warum zerstören fundamentalistische Muslime die alten
Gräber und Mausoleen muslimischer Gelehrter und Moscheen und ziehen dadurch den
Zorn ihrer Glaubensbrüder auf sich? Ist das nicht paradox?
Ja, es ist paradox – scheinbar. Aber wenn man sich die
historischen Unterschiede und Ziele der radikal salafistischen Bewegung einerseits
und der sufistischen Volksfrömmigkeit im Maghreb und in Westafrika andererseits
anschaut, dann werden die Unterschiede deutlich und damit auch die aktuelle
Serie von Zerstörungen in Gao und in Timbuktu.
So wie im Christentum, so gibt es auch in der islamischen
Welt erhebliche konfessionelle Unterschiede. Sie beruhen auf der
unterschiedlichen Interpretation des Koran sowie des „letzten Willens“ des
Propheten Mohammed und der sich anschließenden islamischen Tradition.
Islam contra Islam. Eigentlich müsste es lauten: Salafismus
contra Sufismus. Denn das, was sich im Norden Malis abspielt, ist auch der
islaminterne Kampf um die rechte Interpretation der Lehre des Propheten
Mohammed.
Beim Sufismus handelt es sich um eine mittelalterliche
Strömung der islamischen Mystik (seit dem 9. Jh.). Zu dieser Form des Islam
gehören verschiedene Formen kontemplativen Lebens, die sich als Volkstradition
neben die Scharia (islamisches Gesetz) gesellen. Hochstehende Ausprägungen der
sufistischen Mystik (al tasawwuf) finden wir in der Türkei und in Persien. Im nordafrikanischen
Maghreb und in weiten Teilen des seit dem 10. Jh. in mehreren Phasen islamisierten
Westafrikas hat sich eine populäre Form des Sufismus etabliert. Seit dem 12.
Jh. haben sich mehrere sufistische Ordensbewegungen gebildet (Darqawija, Qadirija,
Shadhiliya, Tidjanija), die von Marabuts angeführt wurden und später auch in
Nord- und Westafrika eine rege Missionstätigkeit entfaltet haben.
Durch das starke Analphabetentum in den Regionen der
Subsahara, hat sich der Islam hier mit populäranimistischen Strömungen
verbunden. Die Marabuts gelten einerseits als anerkannte islamische Gelehrte,
andererseits haben sie durch ihre besondere spirituelle Aura einen
privilegierten Zugang zu Gott. Der Wunsch der Gläubigen besteht darin, an
dieser Kraft (baraka) Anteil zu erhalten. Die Folge dieses Denkens ist die
Errichtung von besonderen Moscheen, Mausoleen und Marabut-Gräber, mit dem Ziel,
die Erinnerung an die verehrten Gelehrten wach zu halten. Der Besuch dieser
Stätten gilt als eine Art „Pilgerfahrt der kleinen Leute“.
An diesen besonderen Orten beten Frauen um
Fruchtbarkeit; es wird die Heilung kranker Angehöriger erbeten oder der
besondere Segen für wirtschaftlichen Erfolg. Bestimmte religiöse Formeln
(dhikr), Tänze und musikalische Formen sind im Laufe der Zeit entwickelt
worden. Hinzu kommt, dass die Religion im Allgemeinen und die sufistische
Frömmigkeit im Besonderen einen erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche
Leben haben.
Demgegenüber handelt es sich bei den Salafisten um
eine ultrakonservative
fundamentalistische Strömung des
Islam, wo es um die Rückkehr zur ursprünglichen, vom Salaf (Urahn, Altvorderen)
ausgeübten Form des Islam geht. Die aus Saudi-Arabien stammende Bewegung der
Wahhabiten bildet einen starken inhaltlichen Bezugspunkt für die Salafisten.
Der Kampf der Salafisten gilt der reinen Lehre.
Salafisten lehnen heilige Orte und die Verehrung von islamischen Heiligen in Form von Bildern und Monumenten ab,
weil sie in Konkurrenz zur alleinigen Anbetung Allahs steht. Darüberhinaus
würde die besondere Stellung des Propheten Mohammed unterhöhlt. Der Koran trifft diesbezüglich keine eindeutigen Aussagen. Ein striktes Bilderverbot ergibt sich lediglich aus der Hadith, der islamischen Tradition. Der islamische Gelehrte
Muhammad Ibn Abdal Wahhab (1703–1792) sah in diesen sufistischen Praktiken eine
Form götzendienerischen Aberglaubens.
Das radikale Vorgehen der salafistischen Ansar Dine im
Norden Malis kommt einer Art von "Bildersturm" gleich, den wir in seiner ikonoklastischen (Bilder zerstörenden) Akzentuierung auch aus der Kirchengeschichte kennen. Das Vorgehen der Salafisten richtet sich also einerseits gegen einen in ihren Augen „abergläubischen
Islam“. Andererseits wird aber auch das kulturelle Erbe der Tuareg, Peulh und
Songai zerstört, Volksgruppen, die seit Generationen in der Sahara und im Sahel
zu Hause sind. Die Tuareg haben seit
Beginn der Rebellion die Einführung eines „Steinzeit-Islam“ und der strengen
Scharia abgelehnt, weil es nicht ihrer Kultur entspricht.Von daher bergen die
islaminternen religiösen Divergenzen auch erheblichen kulturellen und
politischen Sprengstoff. Die UNESCO und die internationale Staatengemeinschaft sowie Teile der muslimischen Welt haben die Zerstörung der bedeutsamen islamischen Kulturstätten scharf verurteilt.
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