Mali | ausgezogen, die Demut zu lernen

Aus dem städtischen Verkehr sind die bettelnden Straßenkinder nicht wegzudenken. An Ampelkreuzungen warten sie mit ihren leeren Tomatenbüchsen, klopfen an die Scheiben und hoffen, hier und da eine Münze zu erhalten. Manche haben einen Eimer Wasser dabei, eine Spritzflasche und einen Lappen – ungefragt waschen sie die Autoscheiben und hoffen auf finanzielle Gegenleistung. Von den Verantwortlichen Kommunalpolitikern wird die geschilderte Praxis längst als eine „Plage“ wahrgenommen. Gewalt unter und an Kindern ist an der Tagesordnung. Kinder nehmen Schaden an Leib und Seele. Bei den meisten der Kinder handelt es sich um bettelnde Kinder aus Koranschulen. Die Hauptakteure und Verantwortlichen dieser Entwicklungen sind die Imame und Meister an den Koranschulen. In diesen Schulen gehört nicht nur der Islamunterricht zum alltäglichen Programm, sondern auch das Betteln auf der Straße. Es steht für die Verantwortlichen außer Frage: „Der Koranunterricht war und ist eine Stütze der malischen Gesellschaft. Deshalb muss er reorganisiert und unterstützt werden“. Doch gleichzeitg soll den negativen Seiten des Phänomens Einhalt geboten werden. Seit kurzem befasst sich die COMADE (Coalition malienne des droits des enfants) mit der Problematik. 
Das ganze System hat mittlerweile Tradition in Mali. Es stammt aus dem arabischen Orient und ist von den islamischen Karamogo (Lehrern) in ländlichen Gegenden zur Finanzierung der Koranschulen übernommen worden. Das Betteln wird als eine pädagogische Methode angesehen. Kinder sollen die Tugenden der Genügsamkeit, der Geduld, der Demut sowie der Solidarität und der Komplementarität erlernen. Die Moral von der Geschicht ist ganz einfach: „Im Leben ist der Mensch immer auf andere angewiesen. Wenn du in Not bist, bitte andere im Namen Allahs dir zu helfen!“
Da die Koranlehrer einfache, meist arme Leute waren, konnten sie die Ernährung ihrer Schüler (talibés) nicht sicherstellen. Deshalb wurden die Kinder auf die Straße geschickt, um von Haus zu Haus Lebensmittel zu erbetteln. Das tägliche Programm war darauf abgestimmt – ein paar Stunden Koranunterricht und dann ab raus - betteln. Die Praxis erlaubte es den Kindern zumeist, sich durchzuschlagen und von „der Hand in den Mund“ zu leben.
Später wurde dieses Phänomen infolge der Landflucht ins urbane Leben übertragen. In Mali fand in den 1970er und 1980er Jahren wegen der großen Trockenheit eine große Migration vom Land in die Stadt statt. Die Koranlehrer zogen mit und übernahmen ihre traditionellen Praktiken. In der Stadt sammelten die bettelnden Kinder (garibouts) keinen Reis, sondern harte Münzen. Das Geld wurde zum Kauf von Lebensmitteln, Medikamenten usw. benutzt. Die Kinder erlernten in den Jahren unterwegs Solidarität und wurden „reife Menschen“. Die beschriebene Ordnung gehört jedoch schon lange der Vergangenheit an.

Heute hat sich das Bild gewandelt. Die Kinder werden als Trittbrett der Koranlehrer ausgenutzt. Kinder verbringen immer mehr Zeit auf der Straße, setzen sich dort ungeahnten Gefahren aus und müssen das „erwirtschaftete Bettelgut“ an ihren Meister abgeben. Diese kümmern sich kaum um die Entwicklung der Kinder. Kinder werden wie Vieh behandelt, das zum Arbeiten ausgenutzt wird, so der Journalist F. Sissoko. Die Kinder berichten: „Wir werden nur zum Betteln rausgeschickt. Der Meister kümmert sich einen Dreck um den Unterricht und um unsere Erziehung. Auch Medikamente besorgt er nicht. Wir suchen nur nach Essen und das Geld müssen wir abgeben“ Aus vielen der bettelnden Koranschülern werden schließlich Kinder, die ihr Leben dauerhaft auf der Straße verbringen. Ihre notdürftigen Behausungen errichten sie in der Nähe von Moscheen und Kirchen. Heute wird gebettelt, morgen geraten sie in die Hände von Drogendealer. Mädchen werden zu Prostituierten.
Uns ist geraten worden, die bettelnden Kinder nicht zu unterstützen, obwohl ihr Elend zum Himmel schreit und es uns in der Seele weh tut. Wenn wir ihnen helfen, unterstützen wir lediglich ein System, das wir zutiefst verabscheuen. Sicherlich sind diese negativen Auswüchse von aufrichtigen Muslimen so nicht gewollt. Doch eine Religion, die zusieht, wie ihre Kinder im Namen des Koran und der Tugend der Demut ausgenutzt werden und auf der Straße verkümmern, können wir nicht gutheißen.
Jedes zerlumpte Kind mit seiner Büchse in der Hand ist ein Schrei der Traurigkeit und des Zorns, sagt F. Sissoko. Der Schrei richtet sich anklagend an die Eltern, die blind geglaubt haben, ihre Kinder würden in der Koranschule etwas fürs Leben lernen. Es ist ein Schrei, der sich an die Politiker richtet, den skrupellosen Koranmeistern Einhalt und Paroli zu bieten. 

Heute Mittag trafen wir ein halbes Dutzend Straßenkinder mit roten Dosen und blauen Plastikeimer bewaffnet am Gemüsestand. Wir kamen ins Gespräch. "Der Karamogo hat uns geschickt", erklärten sie uns. "Ihre Koranschule befindet sich in Sanfil." Das Stadtviertel ist uns gut bekannt. "Am Morgen haben wir im Koran gelesen, jetzt sollen wir auf der Straße Geld für den Meister einsammeln." So ist das Leben ...
Die rote Büchse und die aufgehaltene Hand spiegeln eine Mentalität, die unserer Auffassung von Menschenwürde widerspricht. Kein Mensch hat es verdient, erzwungenermaßen und alleingelassen auf der Straße die Tugend der Demut zu erlernen. Im Namen Allahs, eine milde Gabe - so der Standardsatz der Kinder auf der Straße. Dieser Satz und die dahinterstehende Praxis des Bettelns mögen Teil der malischen Tradition und Kultur sein. Doch es regt sich an dieser Stelle der Widerstand im Namen des Evangeliums und des biblischen Menschenbildes. Wir sagen: Im Namen Gottes, erzieht und versorgt eure Kinder und nutzt sie nicht aus. Schützt sie und liefert sie nicht den Gefahren der Straße aus. Wartet nicht, bis irgendeine Hilfsorganisation eure Kinder aufgabelt und versorgt. Habt ihr kein Ehrgefühl?
Mit unserem Engagement in der Straßenkinder-WG von REMAR im Osten Bamakos helfen wir, die Not zu lindern, den Kindern Liebe zu geben und ihnen Ausbildung und eine familiäre Atmosphäre zu gewähren. Doch letztlich muss am System gearbeitet werden. Das ist nicht die Stärke der evangelikalen Christen. Sie verbinden lieber die Wunden (Diakonie), als die Krankheit auszurotten (Transformation).

Quellen:
Zoumana Coulibaly. 2015. Séminaire d’information et de partage d’idées sur la mendicité : La COMADE et les Maitres Coraniques du District en conclave . Bamako : L'Indicateur du Renouveau (6.1.2015)
Fily Sissoko. 2015. Les talibés à Bamako : Des marchepieds pour les maîtres coraniques. Bamako : Tjikan (10.2.2015)

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